03.10.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
EuGH
12.10.2023
C-21/22
DNotZ 2024, 432
Eine ukrainische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Polen, die dort Miteigentum an einer Immobilie hält, wollte in einem notariellen Testament festlegen lassen, dass ihr Nachlass dem ukrainischen Recht unterliegt.
Der zuständige Notariatsvertreter verweigerte jedoch die Beurkundung.
Daraufhin wandte sich die Erblasserin mit einer Klage an das Regionalgericht in Opole, da sie der Auffassung war, die Ablehnung beruhe auf einer fehlerhaften Anwendung der Verordnung (EU) Nr. 650/2012.
Das Gericht setzte das Verfahren aus und legte dem Europäischen Gerichtshof zwei Fragen zur Vorabentscheidung vor:
1. Ob Art. 22 der Verordnung dahin auszulegen ist, dass auch Drittstaatsangehörige – also Personen ohne EU-Staatsbürgerschaft – für ihre Rechtsnachfolge das Recht ihres Herkunftsstaates wählen dürfen.
2. Ob Art. 75 i.V.m. Art. 22 der Verordnung so zu verstehen ist, dass bei Bestehen eines bilateralen Abkommens zwischen einem Mitgliedstaat und einem Drittstaat, das zwar eine objektive Rechtsverweisung enthält, aber keine ausdrückliche Regelung zur Rechtswahl trifft, eine Rechtswahlmöglichkeit für Angehörige des Drittstaates dennoch besteht.
Zur ersten Frage
Das vorlegende Gericht wollte im Kern wissen, ob ein Drittstaatsangehöriger, der in einem EU-Mitgliedstaat lebt, nach Art. 22 der EuErbVO das Recht seines Herkunftsstaates für seine Erbfolge wählen darf.
Art. 22 EuErbVO erlaubt jeder Person, das Recht des Staates zu bestimmen, dem sie zum Zeitpunkt der Rechtswahl oder ihres Todes angehört. Der Wortlaut unterscheidet nicht zwischen EU-Bürgern und Drittstaatsangehörigen. Einschränkend ist lediglich, dass nur das Recht eines eigenen Staatsangehörigkeitsstaates gewählt werden kann.
Diese Auslegung wird durch weitere Regelungen der Verordnung bestätigt:
• Art. 20 sieht ausdrücklich vor, dass auch das Recht eines Drittstaats Anwendung finden kann.
• Art. 5 und Art. 6 beschränken bestimmte Zuständigkeitsvereinbarungen nur auf den Fall, dass das gewählte Recht das eines Mitgliedstaats ist – was nur sinnvoll ist, wenn auch die Wahl eines Drittstaatsrechts möglich ist.
• Auch die Erwägungsgründe der Verordnung sprechen allgemein von „Bürgern“ und schließen Drittstaatsangehörige nicht aus.
Daraus folgt: Auch Personen ohne EU-Staatsangehörigkeit können nach Art. 22 EuErbVO das Recht ihres Heimatstaates wählen, wenn sie in einem Mitgliedstaat ansässig sind.
Zur zweiten Frage
Mit der zweiten Vorlagefrage sollte geklärt werden, ob Art. 75 iVm Art. 22 EuErbVO einer Rechtswahl entgegensteht, wenn zwischen einem Mitgliedstaat und dem Drittstaat des Erblassers ein bilaterales Abkommen besteht, das das anzuwendende Erbrecht vorgibt, jedoch keine Rechtswahlmöglichkeit vorsieht.
Nach Art. 75 EuErbVO bleiben internationale Übereinkommen, denen ein Mitgliedstaat bereits vor Erlass der Verordnung beigetreten ist, unberührt. Das bedeutet, dass bei kollidierenden Regelungen die völkerrechtlichen Abkommen Vorrang haben. Dies entspricht auch der bisherigen Rechtsprechung des EuGH und ähnlichen Bestimmungen in anderen unionsrechtlichen Instrumenten.
Die EuErbVO verfolgt das Ziel, den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr im Erbrecht zu erleichtern, etwa durch einheitliche Kollisionsnormen und Zuständigkeitsregeln. Dabei stellt Art. 21 den allgemeinen Anknüpfungspunkt dar (gewöhnlicher Aufenthalt), während Art. 22 eine eng begrenzte Ausnahme zulässt (Rechtswahl nach Staatsangehörigkeit).
Diese Ausnahmeregelung stellt aber keinen tragenden Grundsatz der Verordnung dar. Vielmehr ist ausdrücklich vorgesehen, dass internationale Abkommen einzelner Mitgliedstaaten – auch wenn sie zu einer Nachlassspaltung führen – vorrangig berücksichtigt werden können.
Damit gilt: Wenn ein bilaterales Abkommen zwischen dem Mitgliedstaat des Wohnsitzes und dem Herkunftsstaat des Erblassers das maßgebliche Erbrecht festlegt, ohne Rechtswahloption, kann der Erblasser nicht auf Grundlage von Art. 22 EuErbVO eine Rechtswahl treffen.
Die Entscheidung des EuGH verdeutlicht, dass der Umgang mit völkerrechtlichen Nachlassabkommen im Anwendungsbereich der EuErbVO erhebliche praktische Herausforderungen birgt. Am Beispiel des polnisch-ukrainischen Abkommens von 1993 zeigt sich, dass für Immobilien zwar das Belegenheitsrecht gilt, das Abkommen jedoch zur Rechtswahl schweigt. Hier stellte sich die Frage, ob dadurch nur die objektive Anknüpfung nach Art. 21 EuErbVO oder auch die Rechtswahloption des Art. 22 verdrängt wird. Diese Problematik ist keineswegs auf Polen beschränkt: Auch in Deutschland bestehen zahlreiche vorrangige Abkommen nach Art. 75 EuErbVO, etwa mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, dem Iran oder der Türkei; daneben sind internationale Verträge wie das Genfer Flüchtlingsabkommen oder das New Yorker Staatenlosenübereinkommen zu berücksichtigen (Lehmann, ZEV 2023, 837).
Der EuGH hat hierzu klargestellt, dass Art. 75 EuErbVO den Ausschluss einer Rechtswahl zulässt, soweit dies vom Regelungsanspruch des jeweiligen Abkommens gedeckt ist. Ob ein Abkommen tatsächlich eine solche Ausschlusswirkung entfaltet, ist jedoch keine Frage des Europarechts, sondern der Auslegung des konkreten Vertrags. Für die deutschen Abkommen mit dem Iran, der Türkei und der ehemaligen Sowjetunion geht die herrschende Auffassung davon aus, dass eine Rechtswahl ausgeschlossen ist (Lehmann, ZEV 2023, 837). Daraus folgt, dass stets eine Einzelfallprüfung notwendig bleibt: Ob eine Rechtswahl nach Art. 22 EuErbVO zulässig ist, richtet sich ausschließlich nach dem jeweiligen Abkommen (Weber, DNotZ 2024, 432).
Auch beim Geltungsbereich dieser Abkommen bestehen Unsicherheiten. Während die herrschende Meinung in Deutschland davon ausgeht, dass sie nur für im Vertragsstaat belegene Vermögenswerte gelten, ist umstritten, ob sie auch auf Doppel- oder Mehrstaater Anwendung finden. Nach überwiegender Ansicht sind jedenfalls Angehörige beider Vertragsstaaten nicht erfasst (Weber, DNotZ 2024, 432).
Hinzu kommen offene Verfahrensfragen: Unklar bleibt insbesondere, wie sich die Abkommen im Europäischen Nachlasszeugnis (ENZ) abbilden lassen (Lehmann, ZEV 2023, 837). Zwar gelten die Abkommen nur für die Gerichte der Vertragsstaaten. Kommt es jedoch vor, dass ein Drittstaatsangehöriger (z. B. iranisch, türkisch oder ukrainisch) seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hatte und Nachlassvermögen in anderen Mitgliedstaaten hinterlässt, führt dies zu Spannungen zwischen EuErbVO und Abkommen. Die deutschen Nachlassgerichte könnten das ENZ zwar auf das Inlandsvermögen beschränken, sollten jedoch berücksichtigen, dass es primär für die Verwendung in anderen Mitgliedstaaten bestimmt ist und daher die Erbfolge nach EuErbVO abbilden sollte (Weber, DNotZ 2024, 432).
Problematisch ist zudem die unpräzise Formulierung des EuGH in Rn. 38, wonach ein Abkommen für in einem Mitgliedstaat wohnhafte Drittstaatenangehörige gelten soll. Maßgeblich ist indes nicht der Wohnsitz, sondern ob das Abkommen im Einzelfall Anwendung beansprucht. Entscheidend ist stets der Erbfall, nicht die Testamentserrichtung (Lehmann, ZEV 2023, 837). In diesem Zusammenhang ist auch auf die Rechtswahl hinzuweisen: Deren Wirksamkeit steht erst im Zeitpunkt des Erbfalls fest. Eine im Zeitpunkt der Errichtung unwirksame Rechtswahl kann später wirksam werden, etwa durch einen Staatsangehörigkeitswechsel. Notare dürfen die Beurkundung daher nicht wegen (vermeintlicher) Unwirksamkeit ablehnen (§ 4 BeurkG, § 15 BNotO), sondern haben die Problematik mit den Mandanten zu besprechen (Weber, DNotZ 2024, 432).
Insgesamt rückt die Entscheidung Art. 75 EuErbVO in den Fokus (Lehmann, ZEV 2023, 837) und legt die zahlreichen offenen Fragen im Spannungsfeld zwischen EuErbVO und völkerrechtlichen Verträgen offen (Weber, DNotZ 2024, 432). Für die im Jahr 2025 anstehende Revision der Verordnung ist daher dringend zu wünschen, dass diese Zweifelsfragen systematisch aufgearbeitet werden. Parallel sollten die Mitgliedstaaten ihre Nachlassabkommen mit Drittstaaten auf ihre Aktualität hin überprüfen (Lehmann, ZEV 2023, 837; Weber, DNotZ 2024, 432).