OLG Braunschweig 10 W 11/25
Verlangen des Pflichtteils im Sinne einer Pflichtteilsstrafklausel

24.07.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Braunschweig
13.02.2025
10 W 11/25
ZEV 2025, 253

Leitsatz | OLG Braunschweig 10 W 11/25

  1. Ein „Verlangen“ im Sinne einer Pflichtteilsstrafklausel in einem gemeinschaftlichen Testament, wonach in diesem Fall beim zweiten Erbfall der Pflichtteilsberechtigte auf den Pflichtteil gesetzt sein soll, setzt zwar nicht die Bezifferung oder gar Auszahlung voraus, jedoch eine von gewisser Ernsthaftigkeit und Intensität gekennzeichnete Interessenwahrung. (n. amtl. Ls.)
  2. Ob der Pflichtteilsberechtigte zu erkennen gibt, den Pflichtteil ernsthaft geltend machen zu wollen, ist dabei aus der Sicht des Erben unter Zugrundelegung des objektiven Empfängerhorizonts zu beurteilen. (n. amtl. Ls.)

Sachverhalt | OLG Braunschweig 10 W 11/25

B1 und B2 sind die einzigen Kinder der Erblasserin E und ihres 1976 verstorbenen Ehemanns M. 1971 errichteten E und M ein gemeinschaftliches Testament, das sie gegenseitig zu Alleinerben einsetzte und eine Pflichtteilsstrafklausel enthielt: Wer nach dem Tod des erstversterbenden Elternteils seinen Pflichtteil verlangt, erhält nach dem Tod des letztversterbenden Elternteils nur den Pflichtteil.

Nach Ms Tod 1976 verkaufte E 1981 ein geerbtes Hausgrundstück und weiteres Vermögen für 282.000 DM, davon erhielt B2 110.000 DM. Am 1.2.1984 schrieb E ein Testament, in dem sie erklärte, die Zahlung an B2 diene zur Finanzierung eines Hausbaus und beruhe auf einer Vereinbarung zwischen E, B1 und B2, wonach B2 mit der Zahlung alle Ansprüche gegenüber Ms Nachlass abgegolten habe. B2 verzichtete demnach auf Ansprüche am Hausgrundstück und bestätigte dies schriftlich am 13.10.1983. Im Testament bestimmte E, dass B1 das Hausgrundstück alleine erhalten solle, während beide Kinder Miterben am übrigen Vermögen bleiben.

Nach Es Tod beantragte B1 am 29.12.2022 einen Erbschein als Alleinerbe mit der Begründung, B2 habe nach Ms Tod ihren Pflichtteil verlangt und erhalten, weshalb die Pflichtteilsstrafklausel greife. B2 bestritt, Pflichtteilsansprüche geltend gemacht zu haben. B1 argumentierte, B2 habe durch das Fordern von Geld gegenüber E und die Vereinbarung von 1983 ihren Pflichtteil konkludent eingefordert, auch ohne das Wort „Pflichtteil“ zu verwenden. Zudem verweigere B2 eine eidesstattliche Versicherung gegenüber dem Grundbuchamt.

Das Nachlassgericht wies den Antrag zurück, da nicht hinreichend nachgewiesen sei, dass B2 Pflichtteilsansprüche geltend gemacht habe und die Klausel daher nicht eingetreten sei. B1 legte Beschwerde ein und wiederholte seine Auffassung, dass B2 1981 konkludent ihren Pflichtteil geltend gemacht habe. Das Testament von 1984 sei zwar formunwirksam, enthalte aber glaubwürdige Darstellungen, die seine Argumentation stützen. Hiergegen legte B1 Beschwerde ein und berief sich auf das Verhalten der B2 sowie die Vereinbarung von 1983 als konkludentes Pflichtteilsverlangen.

Entscheidung | OLG Braunschweig 10 W 11/25

Die Beschwerde hatte keinen Erfolg. Das AG hat den Antrag von B1 auf Erteilung eines Erbscheins zu Recht abgelehnt.

B1 wollte als Alleinerbe nach dem Tod der E im Jahr 2022 eingetragen werden, doch B2 hat ihre Erbenstellung nicht verloren, weil sie die Pflichtteilsstrafklausel im gemeinschaftlichen Testament von 1971 nicht verletzt hat. Die Erbfolge bestimmt sich nach dem notariellen Ehegattentestament von 1971, das spätere Einzeltestament der E von 1984 ist aufgrund der Bindungswirkung des gemeinschaftlichen Testaments gemäß § 2265 BGB unwirksam.

Nach § 4 des Testaments von 1971 sollen B1 und B2 zu gleichen Teilen Erben der letztversterbenden E sein. Ein Verlust der Erbenstellung könnte eintreten, wenn ein Kind nach dem Tod des erstversterbenden Ehegatten den Pflichtteil verlangt, was die Pflichtteilsstrafklausel als auflösende Bedingung im Sinne des § 2075 BGB auslösen würde (BGH v. 2.6.2016 – V ZB 3/14). Ob ein solches Verlangen vorliegt, entscheidet die Auslegung des Testaments nach dem tatsächlichen Erblasserwillen, der sich aus den Umständen und zumindest andeutungsweise aus dem Testament ergeben muss (BGH v. 24.6.2009 – IV ZR 202/07; OLG Hamm v. 29.3.2022 – I-10 W 91/20). Bei unklaren Pflichtteilsstrafklauseln hat das Gericht den Erblasserwillen genau zu ermitteln (Kaup ErbR 2024, 336).

Pflichtteilsstrafklauseln schützen den überlebenden Ehegatten vor finanziellen und emotionalen Belastungen durch Pflichtteilsforderungen (OLG Köln v. 27.9.2018; KG v. 16.11.2018; OLG Düsseldorf v. 8.11.2019) und können Gerechtigkeit unter den Kindern sichern und loyales Verhalten belohnen (Kaup ErbR 2024, 336). Das AG hat richtig alle Schutzzwecke berücksichtigt. Die Klausel greift nur, wenn der Erbe objektiv und ernsthaft seinen Pflichtteil fordert und sich der Rechtsfolgen bewusst ist (OLG Köln BeckRS 2018, 25213; OLG Hamm ZEV 2023, 231). Es genügt keine bloße Andeutung, sondern eine deutlich erkennbare Interessenwahrung (OLG Düsseldorf v. 18.7.2011).

Das AG stellte fest, dass B2 ein solches Verhalten nicht gezeigt hat. Zwar erhielt B2 einige Jahre nach dem Tod des Vaters 110.000 DM von E, doch über die rechtliche Bedeutung dieser Zahlung streiten die Beteiligten. B1 behauptet, B2 habe durch eine Bitte um finanzielle Unterstützung beim Hausbau den Pflichtteil verlangt, gibt aber zu, dass sie das Wort „Pflichtteil“ nicht verwendet hat. Das reicht nicht aus.

Auch aus B2s schriftlicher Erklärung vom 13.10.1983 ergibt sich kein eindeutiges Pflichtteilsverlangen. Dort erklärt sie nur, keinen Anspruch auf das Hausgrundstück zu erheben und ihren Erbteil erhalten zu haben, ohne den Pflichtteil zu erwähnen.

Keiner der üblichen Schutzzwecke der Pflichtteilsstrafklausel wurde durch den Vorgang verletzt. E wurde nicht gegen ihren Willen zur Zahlung gezwungen und geriet nicht in finanzielle Schwierigkeiten. Ihr Testament von 1984 zeigt, dass die Zahlung freiwillig erfolgte, um B2 beim Hausbau zu helfen. Auch familiäre Spannungen sind nicht ersichtlich. Der Wille der E war offensichtlich auf Verteilungsgerechtigkeit zwischen den Kindern gerichtet.

Dass B2 im Testament von 1984 nicht enterbt wurde, sondern B1 nur das Haus „vorab allein erhalten“ sollte, spricht ebenfalls gegen ein sanktionswürdiges Verhalten von B2.

Eine hohe Zuwendung aus dem Elternvermögen allein löst die Pflichtteilsstrafklausel nicht aus (vgl. OLG Hamburg v. 5.10.2018). Es müsste ein bewusstes und gegen den Willen der Eltern gerichtetes Verhalten vorliegen, wofür keine Anhaltspunkte bestehen.

Da B1 nicht behauptet, dass B2 nach dem Tod des Vaters ausdrücklich den Pflichtteil verlangt hat, sind keine weiteren Ermittlungen nach § 26 FamFG erforderlich.

Praxishinweis | OLG Braunschweig 10 W 11/25

Das Urteil des OLG Braunschweig verdeutlicht wichtige Praxishinweise für den Umgang mit Pflichtteilsstrafklauseln. Bei der Auslegung von Pflichtteilsstrafklauseln ist der wirkliche Wille der Erblasser maßgeblich, nicht allein der Wortlaut der Klausel. In diesem Rahmen ist die Verwendung des Begriffs „Pflichtteil“ durch den Berechtigten zwar nicht zwingend erforderlich, kann aber ein starkes Indiz sein. Die Schutzzwecke der Pflichtteilsstrafklausel, wie zum Beispiel der Schutz des überlebenden Ehegatten vor finanziellen Belastungen, sind bei der Auslegung stets mit zu berücksichtigen. Eine schriftliche Erklärung des Kindes, bereits etwas aus dem Erbe erhalten zu haben, reicht nicht aus, wenn sie keinen konkreten Pflichtteilsanspruch benennt. Der Erbscheinsantragsteller trägt die Darlegungs- und Beweislast für das Pflichtteilsverlangen des Miterben. Bestehen Zweifel, ob ein wirksames Pflichtteilsverlangen vorliegt, muss das Gericht keine weiteren Ermittlungen anstellen, da § 26 FamFG dann nicht greift.

Es kommt dabei auf eine Gesamtbetrachtung an: Familiäre Einvernehmlichkeit, freiwillige Zuwendung und fehlende Spannungen sprechen gegen die Anwendung der Strafklausel. Ein „Verlangen“ des Pflichtteils liegt nur vor, wenn objektiv ein ernsthaftes und bewusstes Geltendmachen erkennbar ist. Die bloße Annahme einer Zuwendung oder eine Bitte um finanzielle Hilfe genügt nicht, um die Pflichtteilsstrafklausel auszulösen. Eine hohe Zuwendung allein, auch wenn sie rechnerisch den Pflichtteil übersteigt, löst die Pflichtteilsstrafe nicht automatisch aus.