23.07.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
BGH
04.09.2024
IV ZB 37/23
juris
Eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F., § 1643 Abs. 3 Satz 1 BGB n.F. kommt für den Fall, dass ein als gewillkürter Erbe berufener Elternteil für sich im eigenen Namen und als vertretungsberechtigter Elternteil für das als Ersatzerbe eingesetzte Kind die gewillkürte Erbschaft bei werthaltigem Nachlass ausschlägt, um die gesetzliche Erbfolge zu ermöglichen und das gesetzliche Erbe für sich anzunehmen (sog. lenkende Ausschlagung), nicht in Betracht.
Der Beteiligte zu 1 beantragte die Erteilung eines Europäischen Nachlasszeugnisses nach dem Tod seiner Ehefrau am 19. April 2022. Die Beteiligten zu 2 und 3 sind die gemeinsamen Kinder. Zum Zeitpunkt des Todes der Erblasserin erwartete der Beteiligte zu 3 mit seiner Ehefrau ein Kind (im Folgenden: Beteiligter zu 4), das am 3. Oktober 2022 geboren wurde. Gemeinsam mit der Erblasserin hatte der Beteiligte zu 1 2014 einen notariell beurkundeten Erbvertrag geschlossen, in dem sie sich gegenseitig zum Alleinerben einsetzen und die gemeinsamen Kinder als Erben zu gleichen Teilen nach dem Längstlebenden bestimmten. Sollte eines der gemeinsamen Kinder vor dem Längstlebenden versterben oder aus sonstigem Grund nicht Erbe werden und Abkömmlinge hinterlassen, sollten diese an die Stelle des jeweiligen gemeinsamen Kindes treten.
Die Beteiligten zu 1 bis 3 schlugen für sich sowie der Beteiligte zu 3 und seine Ehefrau für den damals gezeugten, aber noch ungeborenen Beteiligten zu 4 durch notariell beglaubigte Erklärungen gegenüber dem Nachlassgericht die Erbschaft aus dem Berufungsgrund der gewillkürten Erbenstellung aus. Ferner erklärten die Beteiligten zu 1 bis 3, die Erbschaft aus dem Berufungsgrund der gesetzlichen Erbenstellung anzunehmen. Hintergrund der Ausschlagungen sei, dass der Anfall der Erbschaft mit einem Nachlasswert von 1.255.873,40 € allein bei dem Beteiligten zu 1 zu einer enormen Erbschaftssteuerbelastung geführt hätte, weshalb es im Interesse aller Beteiligten liege, das Vermögen im Wege der gesetzlichen Erbfolge möglichst für die Familie zu erhalten. Andererseits wolle der Beteiligte zu 1 die gemeinsamen Kinder bereits am Nachlass ihrer Mutter teilhaben lassen.
Der Beteiligte zu 1 beantragte daher ein Nachlasszeugnis, das auf Grundlage der gesetzlichen Erbfolge ihn als Erben zu ½ und die Kinder (Beteiligte zu 2 und 3) zu je ¼ ausweisen sollte. Das Nachlassgericht wies den Antrag mangels wirksam erklärter Ausschlagung für den Beteiligten zu 4 zurück. Eine daraufhin beantragte familiengerichtliche Genehmigung der Ausschlagungserklärung hat das Amtsgericht nicht erteilt, da der Nachlasswert für den Beteiligten zu 4 einen wirtschaftlichen Vorteil bedeute.
Die Beschwerde des Beteiligten zu 1 gegen den Beschluss des Nachlassgerichts hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Hiergegen richtet sich die zugelassene Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 1, mit der er seinen Antrag auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses weiterverfolgt.
Die Rechtsbeschwerde hatte in der Sache Erfolg. Aus Sicht des Senats hatte das Beschwerdegericht zu Unrecht angenommen, dass die Beteiligten zu 1-3 nicht gesetzliche Erben der Erblasserin geworden seien, weshalb dem Antrag des Beteiligten zu 1 auf Ausstellung eines Europäischen Nachlasszeugnisses stattzugeben sei.
Die Beteiligten zu 1-3 hätten ihr Erbe aus dem Berufungsgrund der gewillkürten Erbeinsetzung wirksam ausgeschlagen. Daneben hätten aber auch die Eltern des Beteiligten zu 4 (ohne dass es auf die Anwendbarkeit der verfügten Ersatzerbenstellung zugunsten weiterer Abkömmlinge auf den vorliegenden Fall ankäme) wirksam die Ausschlagung der Erbschaft für diesen erklärt, ohne dass es einer familiengerichtlichen Genehmigung bedurft hätte, sodass die gesetzliche Erbfolge eingetreten sei.
Die Regelung des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB in der bis zum 31.12.2022 geltenden und hier noch maßgeblichen Fassung (im Folgenden aF) bzw. § 1643 Abs. 3 Satz 1 a.E. BGB, wonach die Eltern (abweichend von § 1643 Abs. 2 Satz 1, § 1822 Nr. 2 BGB aF bzw. § 1643 Abs. 1, §1851 Nr. 1 BGB) für die Ausschlagung einer Erbschaft für das Kind dann keiner Genehmigung des Familiengerichts bedürfen, wenn die Erbschaft dem Minderjährigen erst infolge der Ausschlagung seines sorgeberechtigten Elternteils anfällt und dieser Elternteil nicht neben dem Kind berufen ist, sei hier nach ihrem Wortlaut einschlägig.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdegericht komme eine teleologische Reduktion des Anwendungsbereichs des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB aF bzw. § 1643 Abs. 3 Satz 1 BGB für den Fall, dass – wie hier – ein als gewillkürter Erbe berufener Elternteil für sich im eigenen Namen – beschränkt auf diesen Berufungsgrund gem. § 1948 I BGB – und als vertretungsberechtigter Elternteil für das – hier unterstellt – als Ersatzerbe (§ 2096 BGB) eingesetzte Kind die gewillkürte Erbschaft bei werthaltigem Nachlass ausschlägt, um die gesetzliche Erbfolge zu ermöglichen, bei welchem er selbst, nicht jedoch sein Kind – hier der Beteiligte zu 4 – als Erbe zum Zuge kommt, und um sodann das gesetzliche Erbe für sich anzunehmen (sog. lenkende Ausschlagung), nicht in Betracht.
Eine ausnahmsweise zulässige richterliche Rechtsfortbildung im Wege der teleologischen Reduktion setze eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus, wobei es auf den Standpunkt des Gesetzes und die ihm zugrunde liegenden Regelungsabsicht ankomme.
Aus Sicht des Senats habe der Gesetzgeber den Fall der „lenkenden“ Ausschlagung eines werthaltigen Nachlasses aber nicht übersehen. Vielmehr belege bereits die Entstehungsgeschichte, dass sich der Gesetzgeber gegen ein Genehmigungserfordernis in Fällen der vorliegenden Art entschieden habe. Zunächst stellt der Senat darauf ab, dass der Gesetzgeber im Zuge der Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts zum 1. Januar 2023 die bisherige Regelung des § 1643 Abs. 2 S. 2 BGB a.F. unverändert in § 1643 Abs. 3 S. 1 BGB übernommen habe, obwohl dem die die Befassung des Gesetzgebers mit der Problematik „selektiver oder lenkender Erbausschlagungen“ im Anwendungsbereich des § 1643 (Abs. 2 Satz 2 BGB aF bzw. Abs. 3 Satz 1) BGB vorausgegangen sei. Anders als der Bundesrat, der eine gesetzliche Entscheidung des aus seiner Sicht in der Rechtsprechung diesbezüglich durchaus bestehenden Meinungsstreits erbeten hatte, habe der Gesetzgeber hierzu mit Blick auf die fehlende Praxisrelevanz der Thematik und die bereits bestehenden (in diesem Zusammenhang ausreichenden) Regelwerke keine Veranlassung gesehen und bewusst von einer Klärung des Streitstandes abgesehen, sodass das Gesetz sich nicht als planwidrig unvollständig erweise.
Zudem entspreche die Genehmigungsfreiheit im Fall der „lenkenden“ Ausschlagungen der ursprünglichen Intention des Gesetzgebers zur Einführung von § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB aF bzw. § 1643 Abs. 3 Satz 1 BGB: Die Norm sollte der Entlastung der Gerichte dienen und verhindern, dass diese, um sich der Prüfung des Nachlassbestands und der damit verbundenen Verantwortung zu entziehen, im Zweifel die Genehmigung versagen. Die geltende Regelung sei auch daher gewollt und nicht lückenhaft.
Auch Sinn und Zweck der Regelung des § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB aF bzw. § 1643 Abs. 3 Satz 1 BGB würden aber keine Beschränkung ihres Anwendungsbereichs im Falle der hier in Rede stehenden „lenkenden“ Ausschlagung gebieten. Der Senat bestätigte zwar die Auffassung des Beschwerdegerichts, dass die Befreiung von der Genehmigungspflicht auf der Annahme beruhe, der sorgeberechtigte Elternteil habe die eigene Erbschaft nur nach sorgfältiger wirtschaftlicher Prüfung ausgeschlagen und erkläre die Ausschlagung für das Kind ebenfalls nur dann, wenn diese im Interesse des Kindes liege, weshalb es in dieser Konstellation an einem Interessenkonflikt fehle. Das Beschwerdegericht gehe sodann zwar zutreffend davon aus, dass die gesetzgeberische Vermutung eines Interessengleichklangs zwischen Eltern und Kind dann nicht trage, wenn die Ausschlagung der Erbschaft für das Kind dazu diene, den gesetzlichen Erbgang (auch) zugunsten des sorgeberechtigten Elternteils zu ermöglichen, weil diese dann allein dazu diene, die Erbschaft in eine bestimmte Richtung zu lenken und letztlich dazu führe, dass das Vermögen des ausschlagenden Elternteils gemehrt wird.
Ein solcher Interessenkonflikt rechtfertige es aber nicht, die Wirksamkeit der „lenkenden“ Ausschlagung eines werthaltigen Nachlasses von einer familiengerichtlichen Genehmigung abhängig zu machen. Eine abweichende rechtliche Bewertung von § 1643 Abs. 2 Satz 2 BGB a.F. bzw. § 1643 Abs. 3 Satz 1 BGB verbiete sich bereits deshalb, weil der Kreis der nach §§ 1848 ff. BGB bzw. §§ 1821, 1822 BGB aF genehmigungspflichtigen Rechtsgeschäfte aus Gründen der Rechtssicherheit formal und nicht einzelfallbezogen zu bestimmen sei und nicht allein aufgrund des Inhalts des Rechtsgeschäfts oder der ihm zugrunde liegenden Interessenbewertung einzelfallbezogen erweitert werden dürfe. Ein möglicher Interessenkonflikt im Einzelfall wäre allenfalls unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmissbrauchs nach § 242 BGB zu beurteilen – wofür es vorliegend keine Anhaltspunkte gegeben habe.
Dieses Verständnis werde auch durch die im Rahmen der Reform des Vormundschafts- und Betreuungsrechts eingeführte Vorschrift des § 1643 Abs. 3 Satz 2 BGB gestützt, wonach eine Vereinbarung, mit der das Kind aus der Erbengemeinschaft ausscheidet, genehmigungsfrei ist, unabhängig von der Vereinbarung einer Gegenleistung. Diese Regelung verdeutliche, dass der Gesetzgeber grundsätzlich davon ausgehe, dass die Entscheidung, ob ein Kind etwas von einer Erbschaft erhalte bzw. erhalten dürfe, ohne Kontrolle durch das Familiengericht den Eltern im Rahmen ihres Rechts der elterlichen Sorge (Art. 6 Abs. 2 GG) zu überlassen sei.
Mit seiner Entscheidung hat der BGH eine zentrale und bislang umstrittene Frage im Überschneidungsbereich von Erb- und Familienrecht geklärt – und damit ein deutliches Signal für die Praxis gesetzt. Sie schafft nicht nur dringend benötigte rechtliche Klarheit, sondern eröffnet in vergleichbaren Fällen neue Handlungsspielräume, insbesondere wenn steuerliche Aspekte kurzfristig berücksichtigt werden müssen. Der Wegfall langwieriger (gerichtlicher) Genehmigungsverfahren entlastet (entsprechend der gesetzgeberischen Intention) die Gerichte und beschleunigt die Abwicklung von Erbfällen erheblich.