OLG Stuttgart 11 UF 117/24
Ehegattenunterhalt – Verwirkung wegen unwahrem Kindesmissbrauchsvorwurf

27.08.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

OLG Stuttgart
10.01.2025
11 UF 117/24
NZFam 2025, 493

Leitsatz | OLG Stuttgart 11 UF 117/24

Der unwahre, hartnäckige Vorwurf sexuellen Kindesmissbrauchs kann zur vollständigen Verwirkung des Anspruchs auf Ehegattenunterhalt führen. 

Sachverhalt | OLG Stuttgart 11 UF 117/24

Die Beteiligten sind seit dem Jahr 2021 getrennte Eheleute, die über die Abänderung eines gerichtlichen Vergleichs zum Trennungsunterhalt streiten. Im September 2022 äußerte die Mutter erstmals den Verdacht, der Vater habe das Kind während eines Umgangskontaktes sexuell missbraucht. Die Tochter wurde ärztlich untersucht und die Mutter stellte Strafanzeige. Bei der körperlichen Untersuchung des Kindes konnten keine Anzeichen des Missbrauchs festgestellt werden. Auf Empfehlung der hinzugezogenen Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie wurde der Umgang mit dem Vater bis Februar 2023 ausgesetzt. Das Strafverfahren gegen den Vater wurde im Juli 2023 eingestellt. Anfang Februar 2023 schlossen Mutter und Vater vor dem Amtsgericht einen Vergleich dahingehend, dass ab dem 14.02.2023 begleitete Umgangskontakte stattfinden sollten. In mehreren Verfahren im Jahr 2023 wurde gutachterlich festgestellt, dass sich aus den zur Verfügung stehenden Unterlagen und Lichtbildern keine Befunde ergaben, die einen sexuellen Missbrauch durch den Vater belegen oder konkret auf einen solchen hindeuten würden und auch kein begründeter Anfangsverdacht bestehe. Im Juli 2023 wurde dem Vater im Wege der einstweiligen Anordnung die elterliche Sorge vorläufig allein übertragen und das Kind wechselte in den Haushalt des Vaters. Im Januar 2024 wurde diese Entscheidung im Hauptsacheverfahren bestätigt. Die Mutter hält ihre Vorwürfe gegen den Vater trotz Einstellung des Strafverfahrens in mehreren Verfahren aufrecht. In diesem Verfahren streiten die Eltern um die Abänderung eines Unterhaltsvergleichs vom Oktober 2022, in dem sich der Vater verpflichtet hatte, ab September 2022 monatlich einen Trennungsunterhalt in Höhe von 1.500 EUR unter Aufrechterhaltung eines Verwirkungseinwands wegen der Behauptung des sexuellen Missbrauchs und unter Vorbehalt der Rückforderung zu zahlen. In erster Instanz beantragte der Vater ab September 2022 keinen Trennungsunterhalt mehr zahlen zu müssen und hilfsweise Rückzahlung. Die Mutter begehrt eine Erhöhung des Trennungsunterhalts beginnend mit dem Wechsel des Kindes zum Vater wegen Entreicherung. Erstinstanzlich würde der Ehegattenunterhalt dahingehend abgeändert, dass er ab August 2023 nicht mehr geschuldet und zurückzuzahlen sei. Mit ihrer Beschwerde vor dem OLG Stuttgart verfolgt die Mutter ihren erstinstanzlichen Antrag weiter. 

Entscheidung | OLG Stuttgart 11 UF 117/24

Die Beschwerde der Mutter hat überwiegend keinen Erfolg. Das OLG setzt den Trennungsunterhalt für den Monat September 2023 herab, schließt ihn ab Oktober 2023 gänzlich aus und bejaht einen Rückzahlungsanspruch des Vaters ab Februar 2024. 

Der Abänderungsantrag des Vaters ist überwiegend begründet. Nach § 239 Abs. 2 FamFG i.V.m. § 313 Abs. 1 BGB kann ein Beteiligter die Anpassung eines Vergleichs an veränderte Umstände verlangen, wenn es einem Beteiligten nach Treu und Glauben nicht mehr zugemutet werden kann, an der bisherigen Regelung festgehalten zu werden. Für die Prüfung sind zunächst die Grundlagen zu ermitteln, die für die Schaffung des abzuändernden Titels maßgeblich werden. Daraufhin ist festzustellen, welche Änderungen eingetreten sind und welche Auswirkungen diese auf die Berechnung des Unterhaltsanspruchs haben. Seitens des Vaters haben sich ab September 2023 Änderungen seiner Einkommensverhältnisse ergeben, da er seine Erwerbstätigkeit aufgrund der Betreuung der Tochter reduziert hat. Die Mutter muss sich hingegen eine Vollzeitbeschäftigung zurechnen lassen.
 
Für den Zeitraum ab Oktober 2023 ist der Trennungsunterhaltsanspruch der Antragsgegnerin nach § 1579 Nr. 7 BGB vollständig verwirkt. Da die Mutter ihre Vorwürfe gegen den Vater wegen sexuellen Missbrauchs trotz der Einstellung des Ermittlungsverfahrens, der Vorlage der Gutachten und dem Wechsel des Kindes in den Haushalt des Vaters weiterhin äußerte und damit gegen die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehende elterliche Solidarität verstoßen hat, wäre es grob unbillig, den Vater weiterhin zu Trennungsunterhaltszahlungen zu verpflichten. Nach Ansicht des Senats ist der Mutter ein offensichtlich schwerwiegendes, eindeutig bei ihr liegendes Fehlverhalten gegenüber dem Vater vorzuwerfen. Zwar waren die Vorwürfe nicht von Beginn an mutwillig. Seitens der Mutter bestand ein entsprechendes Aufklärungsinteresse. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass ein solcher Verdacht nicht leichtfertig und ohne gravierende Anhaltspunkte erhoben werden darf, da hiermit die Gefahr einer familiären, beruflichen und sozialen Isolation des beschuldigten Elternteils einhergeht. Auf der anderen Seite besteht bei Vorliegen eines entsprechenden Verdachts nicht nur ein Recht der Mutter, sondern sogar die Pflicht, das Kind vor etwaigen weiteren Übergriffen zu schützen. Allerdings wiederholte die Mutter ihre Vorwürfe auch nach Einstellung des Ermittlungsverfahrens und der eindeutigen Gutachten, die ihren Verdacht ebenfalls nicht bestätigten. Dies tat die Mutter nach Auffassung des Senats vordergründig, um einen Vorteil in den familiengerichtlichen Verfahren ab dem Jahr 2022 zu erlangen und das Umgangsrecht des Vaters mit dem Kind zu beschränken. Spätestens ab Einstellung des Ermittlungsverfahrens und der Vorlage der Gutachten konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass es für den von der Mutter geäußerten Missbrauchsverdacht keine objektivierbaren Anhaltspunkte gab. Hält die Mutter - wie hier - unter solchen Umständen weiterhin an ihrem Missbrauchsverdacht fest, kann sie sich zu diesem Zeitpunkt nicht mehr auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen berufen. Dabei ist der Senat auch davon überzeugt, dass die Mutter sich der jeweiligen Folgen ihres Handelns bewusst war und sie diese zumindest billigend in Kauf nahm. Die Nachteile für den Vater aus der Verdächtigung sind erheblich, da diese an die Öffentlichkeit gelangt sind und ein solcher „Makel“ nur schwer zu beseitigen ist. So musste der Vater nach langer Zugehörigkeit aus der Feuerwehr ausscheiden und wurde auch hierdurch in seinem sozialen Leben beeinträchtigt. 

Auch die geforderte grobe Unbilligkeit als weitere Tatbestandsvoraussetzung sieht der Senat als gegeben an. Es würde dem Gerechtigkeitsempfinden in unerträglicher Weise widersprechen, den Vater ab Oktober 2023 noch zu Trennungsunterhaltszahlungen zu verpflichten. Die Wahl, ob eine Versagung, Herabsetzung oder zeitliche Begrenzung des Unterhalts erfolgt, steht im richterlichen Ermessen. Vorliegend hat der Senat von der vollständigen Versagung als ultima ratio Gebrauch gemacht.
 
Der hilfsweise geltend gemachte Rückzahlungsanspruch des Vaters ist nur teilweise begründet. Einem Herausgabeanspruch bezüglich des überbezahlten Unterhalts besteht erst ab Februar 2024, da diesem bis zum Eintritt der Rechtshängigkeit am 02.02.2024 die seitens der Mutter erhobene Einrede der Entreicherung nach § 818 Abs. 3 BGB entgegensteht. Hierfür spricht die Vermutung, dass die Mutter die Überzahlung des Unterhalts für die laufenden Lebenshaltungskosten und zur Verbesserung des Lebensstandards ausgegeben hat und sie damit verbraucht ist. Eine verschärfte Haftung nach § 818 Abs. 4 BGB und § 241 FamFG tritt erst mit Rechtshängigkeit des Abänderungsantrags ein, sodass der Vater erst ab Februar 2024 den überbezahlten Unterhalt zurückfordern kann. 

Praxishinweis | OLG Stuttgart 11 UF 117/24

Ein Abänderungsantrag nach § 239 Abs. 1 FamFG ist grundsätzlich nur zulässig, wenn eine nachträgliche Änderung der Umstände vorgetragen wird, die dem Vergleichsschluss zugrunde lagen. Im ursprünglichen Vergleich wurde allerdings der Verwirkungseinwand vorbehalten. In diesem Fall ist nach dem Willen der Beteiligten gem. der Auslegungsvorschriften der §§ 133, 157 BGB davon auszugehen, dass eine Abänderung auf Grundlage der Verwirkung möglich sein sollte (Haußleiter/Schramm, NJW-Spezial 2025, 357 f.).