BFH II R 13/22
Freibetrag für das Kind eines zivilrechtlich als verstorben geltenden Elternteils

01.10.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BFH
31.07.2024
II R 13/22
NJW 2024, 3678

Leitsatz | BFH II R 13/22

  1. Der zivilrechtliche Verzicht eines Kindes gegenüber seinen Eltern auf den gesetzlichen Erbteil bewirkt nicht, dass seinem Kind dem Enkel des Erblassers der Freibetrag zu gewähren ist, der im Falle des Versterbens des Kindes zu gewähren ist. Das Erbschaftsteuerrecht folgt insoweit nicht der Fiktion des Zivilrechts.
  2. Dies ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
     

Sachverhalt | BFH II R 13/22

Im vorliegenden Fall hatte der Vater des Klägers (Enkel) bereits Jahre vor dem Erbfall gegenüber dem Großvater des Klägers notariell auf seinen gesetzlichen Erb- und Pflichtteil verzichtet. Dabei wurde der Erbverzicht nicht auf dessen eigene Nachkommen erstreckt. Als der Großvater im Jahr 2019 verstarb, wurde der Kläger als Enkel im Testament mit einem Viertel des Nachlasses bedacht.

In der Erbschaftsteuererklärung beantragte der Enkel einen Freibetrag in Höhe von 400.000 € nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG. Er argumentierte, dass aufgrund des zivilrechtlichen Erbverzichts seines Vaters dieser als „vorverstorben“ zu behandeln sei. Daraus folge, dass er – der Enkel – als „Kind eines verstorbenen Kindes“ im Sinne des Erbschaftsteuerrechts anzusehen sei.

Das Finanzamt hingegen erkannte nur den Freibetrag in Höhe von 200.000 € nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG an, der für Enkel gilt, deren Elternteil noch lebt.

Entscheidung | BFH II R 13/22

Der BFH hat die Rechtsauffassung des Finanzamts und des vorinstanzlichen Finanzgerichts bestätigt. Zwar sehe § 2346 Abs. 1 Satz 2 BGB zivilrechtlich vor, dass der Erbverzichtende als zur Zeit des Erbfalls „nicht mehr lebend“ gilt. Diese Fiktion werde jedoch nicht auf das Erbschaftsteuerrecht übertragen.

Nach Auffassung des Gerichts lässt der klare Wortlaut von § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG – dort ist von „verstorbenen Kindern“ die Rede – keine andere Auslegung zu. Der Begriff „verstorben“ sei wörtlich zu verstehen. Eine erweiternde oder analoge Anwendung auf „als verstorben geltende“ Personen sei nicht zulässig.

Zudem betont der BFH, dass der Verzichtende (in diesem Fall der Vater) weiterhin erben könnte – nämlich im Wege gewillkürter Erbfolge. Daher bestehe weiterhin die Möglichkeit, dass sowohl der Verzichtende als auch dessen Kind (der Enkel) Freibeträge nach § 16 Abs. 1 Nr. 2 ErbStG erhalten – eine doppelte Begünstigung, die das Gesetz gerade verhindern will.

Keine verfassungsrechtlichen Bedenken

Auch die verfassungsrechtlichen Argumente des Klägers wies der BFH zurück. Weder sei das Erbrecht gemäß Art. 14 Abs. 1 GG verletzt, noch liege eine unzulässige Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG vor. Denn zwischen einem tatsächlich verstorbenen Elternteil und einem lebenden, aber verzichtenden Elternteil bestehe ein wesentlicher Unterschied. Die gesetzgeberische Entscheidung, diesen Unterschied auch steuerlich zu berücksichtigen, sei sachlich gerechtfertigt.

Praxishinweis | BFH II R 13/22

Das Urteil hat erhebliche praktische Bedeutung für die Nachfolgeplanung und steuerrechtliche Beratung. Es zeigt deutlich, dass erbrechtliche Fiktionen nicht automatisch steuerlich übernommen werden. Auch wenn ein Kind zivilrechtlich als „vorverstorben“ gilt (z.B. bei Erbverzicht oder Ausschlagung), wird dies im Erbschaftsteuerrecht nicht als tatsächliches Vorversterben anerkannt.

Daher steht Enkelkindern in solchen Konstellationen nur der reduzierte Freibetrag in Höhe von 200.000 € nach § 16 Abs. 1 Nr. 3 ErbStG zu – auch wenn das Kind des Erblassers nicht am Erwerb beteiligt ist.

Mit dem Urteil vom 31. Juli 2024 (II R 13/22) betont der BFH die eigenständige Auslegung des Erbschaftsteuerrechts. Die zivilrechtliche Fiktion des Vorversterbens nach einem Erbverzicht führt nicht zu einer erbschaftsteuerlichen Gleichstellung mit tatsächlich verstorbenen Personen. Die Entscheidung bringt Klarheit in einer bislang umstrittenen Frage und mahnt zur sorgfältigen steuerlichen Gestaltung von Erbverzichtsmodellen, insbesondere wenn Enkel als Erwerber vorgesehen sind.