30.05.2022
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
EuGH
06.10.2021
C-882/19
ZIP 2021, 2194
Haftung der Tochtergesellschaft für Wettbewerbsverstoß der Muttergesellschaft [ PDF ]
Die Beteiligten des Verfahrens sind die Mercedes Benz Trucks España (MB Trucks), eine Tochtergesellschaft der Daimler, und Sumal SL. Sumal SL erwarb über Stern Motor SL, einer Vertragshändlerin von Daimler, zwischen 1997 und 1999 zwei Lkw. Die Kommission veröffentlichte am 19.07.2016 einen Beschluss, demzufolge 15 europäische Lkw-Hersteller, auch Daimler, an einem Kartell in Form einer einheitlichen und fortgesetzten Zuwiderhandlung gegen Art. 101 AEUV und Art. 53 des Abkommens über den EWR beteiligt waren. Im Rahmen dessen erfolgten Absprachen über Preise und Bruttolistenpreiserhöhungen für Lkw im EWR sowie Absprachen über den Zeitplan und die Weitergabe der Kosten für die Einführung von Emissionstechnologien für mittlere und schwere Lkw nach den geltenden Abgasnormen. Für Daimler fanden die Zuwiderhandlungen zwischen dem 17.01.1997 und dem 18.01.2011 statt.
Daraufhin erhob Sumal SL eine Schadensersatzklage vor dem Handelsgericht in Barcelona und forderte von MB Trucks die Zahlung eines Betrages in Höhe von 22.204,35 Euro. Bei dem Betrag handele es sich um die durch das Kartell entstandenen Mehrkosten. Die Klage wurde vom Gericht mit Urteil vom 23.01.2019 abgewiesen. MB Trucks könne nicht verklagt werden, da die Muttergesellschaft Daimler allein für die Zuwiderhandlungen verantwortlich sei. Sumal SL legt Berufung ein. Das Gericht beschloss das Verfahren auszusetzen und dem Gericht Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
Zunächst sei darauf hinzuweisen, dass Art. 101 Abs. 1 AEUV unmittelbare Wirkungen in den Beziehungen zwischen Einzelnen erzeugt und Rechte entstehen lässt, die von den nationalen Gerichten zu wahren sei. Dadurch soll die volle Wirksamkeit des Art. 101 AEUV gewährleistet werden. Daher könne Sumal SL Ersatz des ihm entstandenen Schadens verlangen, sofern zwischen dem Schaden und dem Kartell ein ursächlicher Zusammenhang besteht.
Zunächst fragt sich das Berufungsgericht, ob Art. 101 AEUV dahingehend auszulegen ist, dass Tochtergesellschaften, die zu 100% von der betroffenen Muttergesellschaft gehalten werden und somit eine wirtschaftliche Einheit bilden, verklagt werden können, obwohl sich der Beschluss der Wettbewerbsbehörde an die Muttergesellschaft richtet. Der Begriff „Unternehmen“ i.S.d. Art. 101 AEUV sei ein autonom auszulegender Begriff des Unionsrechts. Aus dem Wortlaut der Norm ergebe sich, dass der Begriff zur Bezeichnung des Urhebers einer Zuwiderhandlung gegen das Wettbewerbsrecht zu verwenden sei. Durch das Abstellen auf die Tätigkeit von Unternehmen legt das Unionsrecht als entscheidendes Kriterium das Vorhandensein eines einheitlichen Verhaltens auf dem Markt fest. Daher umfasse der Begriff jede wirtschaftliche Tätigkeit ausübende Einheit, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art der Finanzierung und der Tatsache, dass diese aus rechtlicher Sicht aus mehreren natürlichen und juristischen Personen besteht. Verstößt die wirtschaftliche Einheit gegen Art. 101 AEUV, dann haftet sie persönlich. Wird eine Klage gegen einen Teil der Einheit gerichtet, dann müsse Beweis erbracht werden, dass zumindest ein Teil der Einheit so gegen die Norm verstoßen hat, dass davon ausgegangen werden kann, dass das von dieser wirtschaftlichen Einheit gebildete Unternehmen eine Zuwiderhandlung gegen diese Vorschrift begangen hat und dass dieser Umstand endgültig festgestellt wurde. Nach der Rechtsprechung kann der Muttergesellschaft das Verhalten der Tochtergesellschaft zugerechnet werden. Das Gericht hält weiter fest, dass der Begriff „Unternehmen“ und damit der Begriff „wirtschaftliche Einheit“ zu einer gesamtschuldnerischen Haftung der Einheiten führen, die zum Zeitpunkt der Begehung der Zuwiderhandlung die wirtschaftliche Einheit bilden. Allerdings könne nicht automatisch jede Tochtergesellschaft verklagt werden, deren Muttergesellschaft von einer Entscheidung der Kommission, mit der ein rechtsverletzendes Verhalten geahndet wurde, da die Organisation von Unternehmensgruppen von Konzern zu Konzern unterschiedlich sei. Daher kann die MB Trucks nur wegen der Zuwiderhandlung der Daimler haftbar gemacht werden, sofern beide Personen Teil ein und derselben wirtschaftlichen Einheit sind, und somit ein Unternehmen bilden, das der Urheber der Zuwiderhandlung i.S.v. Art. 101 AEUV ist. Es stehe dem Opfer der Zuwiderhandlung somit frei, entweder die Muttergesellschaft oder die Tochtergesellschaft zivilrechtlich haftbar zu machen.
Diese Wahlmöglichkeit besteht unter der Prämisse, dass der Kläger Nachweis über die wirtschaftlichen, organisatorischen und rechtlichen Bindungen zwischen den Gesellschaften und das Bestehen eines konkreten Zusammenhangs zwischen der wirtschaftlichen Tätigkeit der Tochtergesellschaft und dem Gegenstand der Zuwiderhandlung, für die die Muttergesellschaft haftbar gemacht wurde, erbringt. Sumal SL muss mithin nachweisen, dass die wettbewerbswidrige Vereinbarung der Daimler, dieselben Produkte betrifft, wie die von der MB Trucks vermarkteten.
Außerdem möchte das Gericht wissen, ob Art. 101 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit vorsieht, die Haftung für das Verhalten einer Gesellschaft einer anderen Gesellschaft nur dann zuzurechnen, wenn die zweite Gesellschaft die erste Gesellschaft kontrolliert. Durch die Wahlmöglichkeit des Klägers sei davon auszugehen, dass Art. 101 AEUV einer solchen nationalen Regelung entgegensteht. Das nationale Recht sei insoweit möglichst unionsrechtskonform auszulegen. Allerdings sei die Pflicht zur unionsrechtskonformen Auslegung dahingehend begrenzt, dass es insbesondere nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen soll.
Das unionsrechtliche Wettbewerbsrecht ist opferfreundlich, indem es dem Kläger einer Schadensersatzklage ermöglicht, sowohl die Muttergesellschaft als auch die Tochtergesellschaft persönlich haftbar zu machen. Allerdings muss dem Kläger der Nachweis einer Einheit beider Unternehmen gelingen. Die Entscheidung gibt dahingehend zwar Hinweise zur Auslegung. Allerdings wird es trotzdem weiterhin Einzelfallentscheidungen geben, da jede Konzernstruktur für sich analysiert werden muss und es demnach zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann.