BGH IX ZR 12/22
Haftung des schwachen vorläufigen Insolvenzverwalters bei Betriebsfortführung

05.11.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
21.03.2024
IX ZR 12/22
NZI 2024, 660

Leitsatz | BGH IX ZR 12/22

  1. Ordnet das Insolvenzgericht gegenüber einem mit einem Zustimmungsvorbehalt ausgestatteten vorläufigen Verwalter an, er solle ein Unternehmen in Abstimmung mit dem Schuldner fortführen, folgt daraus ohne ergänzende gerichtliche Anordnung keine Befugnis des Verwalters, Verfügungen anstelle des Schuldners mit Wirkung für und gegen die spätere Insolvenzmasse vorzunehmen.
  2. Eine Betriebsfortführung im Eröffnungsverfahren kommt grundsätzlich nur in Betracht, wenn der Schuldner seinen Geschäftsbetrieb bei Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung noch nicht eingestellt hatte.
  3. Solange im Eröffnungsverfahren unklar ist, ob ein noch laufender Geschäftsbetrieb vorliegt, entsprechen Maßnahmen des vorläufigen Verwalters in Ausübung einer (vermeintlichen) Pflicht zur Betriebsfortführung nicht der Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Verwalters, wenn sie Aufschub dulden.

Sachverhalt | BGH IX ZR 12/22

Der Kläger ist seit dem 25. Januar 2019 Insolvenzverwalter im Verfahren über das Vermögen der P GmbH, das auf Eigenantrag vom 11. September 2018 am 1. November 2018 eröffnet wurde. Zuvor war der Beklagte bereits am 12. September 2018 zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt worden. Mit der Bestellung war ein allgemeiner Zustimmungsvorbehalt verbunden, zudem sollte der Beklagte das Speditionsunternehmen der Schuldnerin bis zur Entscheidung über die Verfahrenseröffnung in Abstimmung mit dieser fortführen.

Bereits am Tag seiner Bestellung stellte sich jedoch heraus, dass der neue Geschäftsführer der Schuldnerin keinerlei Kenntnisse vom Geschäftsbetrieb hatte und als Ansprechpartner lediglich den Geschäftsführer der R GmbH benannte, für die die Schuldnerin als Subunternehmerin tätig war. Ein Kollege des Beklagten fand bei einem Besuch an der Geschäftsanschrift keine Beschäftigten an, sondern nur einige Lkw und Auflieger. In den folgenden Tagen sichtete der Beklagte Geschäftsunterlagen, die ihm von der R GmbH übergeben worden waren.

Am 25. September 2018 tätigte der Beklagte Zahlungen in Höhe von insgesamt 137.252,82 Euro von einem Treuhandkonto an die R GmbH zur Begleichung weiterbelasteter Betriebskosten für Kraftstoff und Maut. Hinzu kamen Zahlungen an verschiedene Hauptzollämter für Kfz-Steuern, die der Kläger für den Zeitraum ab Insolvenzantrag mit anteilig 2.884,81 Euro beziffert. Insgesamt belaufen sich die angegriffenen Zahlungen damit auf 140.137,63 Euro.

Kurz darauf informierte der Beklagte das Insolvenzgericht, dass faktisch Geschäftsführer der Schuldnerin bei der R GmbH angesiedelt seien und daher ein erhebliches Risiko für Interessenkonflikte im Gläubigerausschuss bestehe. Am Folgetag erklärte er zudem, dass eine Fortführung des Betriebs im Insolvenzantragsverfahren nicht möglich sei, ohne die Interessen der Gläubiger erheblich zu gefährden.

Der Kläger nimmt den Beklagten persönlich wegen der am 25. September 2018 geleisteten Zahlungen auf Schadensersatz in Anspruch. Das LG Hannover wies die Klage ab, ebenso blieb die Berufung vor dem OLG Celle erfolglos. 

Entscheidung | BGH IX ZR 12/22

Erst die vom Senat zugelassene Revision hatte Erfolg: Der Beschluss wurde aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Das OLG Celle hatte entschieden, dass der Kläger gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Schadensersatz nach § 60 Abs. 1 InsO habe. Die Zahlungen seien im Rahmen des dem Beklagten eingeräumten wirtschaftlichen Handlungsspielraums erfolgt und zumindest zweckmäßig gewesen. Der Beklagte habe am 25. September 2018 noch von einer Fortführungsfähigkeit des Betriebs ausgehen dürfen und die R GmbH als faktische Leitung der Schuldnerin ansehen müssen. Eine nachträgliche Betrachtung ex post dürfe dem Beklagten nicht angelastet werden.

Der BGH sah dies jedoch anders und hob die Entscheidung auf. Nach § 21 Abs. 2 Nr. 1 InsO gelten die Haftungsvorschriften der §§ 60 ff. InsO auch für den vorläufigen Insolvenzverwalter. Er ist daher schadensersatzpflichtig, wenn er insolvenzrechtliche Pflichten verletzt. Dabei muss er zwar in kurzer Zeit einen Überblick über den Betrieb gewinnen und gegebenenfalls eilbedürftige Maßnahmen treffen, dennoch bleibt seine Kernaufgabe die Sicherung und Erhaltung des Schuldnervermögens. Einzelne Gläubiger dürfen nicht bevorzugt werden, auch nicht zur angeblichen Unterstützung einer Betriebsfortführung.

Das OLG Celle hatte nicht ausreichend geprüft, ob der Beklagte überhaupt befugt war, die Zahlungen selbst vorzunehmen. Ein Zustimmungsvorbehalt nach § 21 Abs. 2 Nr. 2 InsO ersetzt kein allgemeines Verfügungsverbot; der Beklagte durfte daher nicht eigenständig über das Vermögen der Schuldnerin verfügen. Eine konkrete Einzelermächtigung durch das Gericht lag nicht vor. Seine Aufgabe bestand vielmehr darin, die Schuldnerin zu überwachen, zu beraten und gegebenenfalls zusätzliche Befugnisse beim Gericht zu beantragen.

Zudem fehlte es an Feststellungen, ob die Schuldnerin überhaupt noch einen aktiven Geschäftsbetrieb führte. Hinweise sprachen eher für eine faktische Einstellung: Der Geschäftsführer hatte keinerlei Kenntnisse, am Betriebssitz waren keine Mitarbeiter anwesend, und die Unterlagen befanden sich bei der R GmbH. Ohne klar bestehenden Geschäftsbetrieb durfte eine Fortführung nicht ohne gesonderte gerichtliche Entscheidung erfolgen.

Selbst wenn man eine Ermächtigung unterstellte, war nicht festgestellt, dass die Zahlungen unaufschiebbar oder zwingend erforderlich waren. Es fehlte an Belegen, dass die Zahlungen an die R GmbH oder an die Hauptzollämter zur Erhaltung von Sanierungschancen notwendig waren. Allein abstrakte Risiken, wie eine mögliche Stilllegung von Fahrzeugen wegen nicht gezahlter Kfz-Steuern, rechtfertigen keine Pflicht zur sofortigen Zahlung.

Damit stand fest, dass die Begründung des Berufungsgerichts den rechtlichen Anforderungen nicht genügte, denn der Beklagte könnte pflichtwidrig gehandelt haben.

Praxishinweis | BGH IX ZR 12/22

Die Entscheidung gibt klare Leitlinien für das Eröffnungsverfahren vor und grenzt die Aufgaben des vorläufigen Insolvenzverwalters eindeutig ein (Dahl in NJW-Spezial 2024, 501, beck-online). Der vorläufige Insolvenzverwalter muss insbesondere vier haftungsbewehrte Anforderungen beachten. Erstens hat er die Pflicht, die Lage des Unternehmens zu erforschen und vor einer Mitwirkung an der Fortführung zu prüfen, ob ein operativer Geschäftsbetrieb tatsächlich läuft und ob Lieferanten- und Kundenbeziehungen bestehen. Zweitens muss er die Geschäftsbeziehungen des Unternehmens schützen; sind betriebsnotwendige Beziehungen gefährdet, dürfen in Ausnahmefällen auch gläubigerbenachteiligende Zahlungen geleistet oder spätere Masseverbindlichkeiten begründet werden. Drittens darf der vorläufige Verwalter bei unklarer Lage nur solche Sicherungsmaßnahmen ergreifen, die keinen Aufschub dulden, wobei in besonderen Fällen einmalige Geschäftschancen genutzt werden dürfen, wenn die damit verbundenen Risiken als gering einzuschätzen sind. Viertens muss er sich strikt an seine Befugnisse halten; erkennt er, dass diese nicht ausreichen, um die Vermögenslage zu sichern, hat er unverzüglich beim Insolvenzgericht weitergehende Maßnahmen anzuregen, etwa den Erlass eines allgemeinen Verfügungsverbots oder die Erteilung von Einzelermächtigungen (Böhme in NZI 2024, 660, beck-online).

Der BGH definiert die Geschäftsbeziehungen des Schuldners als zentrale Schutzgüter der Unternehmensfortführung im Eröffnungsverfahren. Damit grenzt sich das Urteil bewusst von der seit Jahrzehnten vorherrschenden Insolvenzpraxis ab, die vorrangig auf die spätere Massemehrung und -verteilung abzielt. Traditionell bestellen Insolvenzgerichte überwiegend „schwache“ vorläufige Verwalter oder Sachwalter, um spätere Masseverbindlichkeiten zu vermeiden. Einzelermächtigungen werden nur selten angeregt und noch seltener erteilt (Böhme in NZI 2024, 660, beck-online).

Ein vorläufiger Verwalter darf nur dann anstelle des Schuldners tätig werden, wenn das Insolvenzgericht die Verfügungsbefugnis ausdrücklich auf ihn übertragen hat („starker“ vorläufiger Verwalter) oder er im Einzelfall eine Einzelermächtigung erhält. Ohne diese Voraussetzungen ist er auf Beratung und Überwachung beschränkt. Da „starke“ vorläufige Verwalter selten bestellt werden, zeigt die Entscheidung des BGH die besondere Bedeutung von Einzelermächtigungen im Eröffnungsverfahren. Selbst wenn der vorläufige Verwalter über Verfügungsbefugnis verfügt, sind seine Maßnahmen nicht automatisch pflichtgemäß; zulässig sind nur Schritte, die keinen Aufschub dulden, um die Ziele des Insolvenzverfahrens zu sichern. Zu Beginn seiner Tätigkeit gilt für den vorläufigen Verwalter ein abgemilderter Sorgfaltsmaßstab, sofern er sich auf dringend erforderliche Eilmaßnahmen beschränkt (Parzinger in FD-InsR 2024, 812970, beck-online).

Zum Aufgabenbereich des vorläufigen Verwalters zählt auch die Organisation der Insolvenzgeldvorfinanzierung, die einen personalkostenfreien Betrieb für bis zu drei Monate ermöglicht (Böhme in NZI 2024, 660, beck-online). Die Betriebsfortführung ist dabei kein Selbstzweck, sondern Maßnahmen dürfen nur ergriffen werden, wenn sie der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung dienen (Parzinger in FD-InsR 2024, 812970, beck-online). Die gängige Praxis, Entscheidungen über den Insolvenzantrag hinauszuschieben, sichert zwar kurzfristig den Betrieb, vermittelt den Geschäftspartnern jedoch kein Vertrauen; dieses entsteht nur, wenn verlässliche Absprachen möglich sind. Die Insolvenzordnung stellt hierfür die erforderlichen Instrumente bereit: die Bestellung „starker“ vorläufiger Verwalter, die Anordnung von Einzelermächtigungen und die schnelle Entscheidung über den Insolvenzantrag (Böhme in NZI 2024, 660, beck-online).

Ein laufender Betrieb kann im Interesse der Gläubiger oft mehr wert sein als die Summe seiner Einzelteile, sodass die Möglichkeit einer Veräußerung „en bloc“ Eilmaßnahmen unmittelbar nach Antragstellung rechtfertigt. Auch die Begleichung von Insolvenzforderungen kann ausnahmsweise pflichtgemäß sein, wenn sie dem Erhalt des Betriebs dient, etwa durch die Rückerstattung von Kundengeldern zur Stabilisierung eines Online-Handelsgeschäfts. Schadensersatzansprüche aufgrund eines Gesamtschadens sind vom neuen Insolvenzverwalter geltend zu machen; alternativ kann ein Sonderinsolvenzverwalter bestellt werden gem. § 92 S. 2 InsO (Parzinger in FD-InsR 2024, 812970, beck-online).