BSG B 11 AL 4/20 R
Insolvenzgeld – Arbeitnehmereigenschaft des Vorstands einer AG

08.05.2023

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BSG
03.11.2021
B 11 AL 4/20 R
NZG 2022, 522

Leitsatz | BSG B 11 AL 4/20 R

  1. Der insolvenzgeldrechtliche Arbeitnehmerbegriff, der im Gesetz nicht definiert wird, ist rein arbeitsrechtlich zu verstehen. (Rn. 15)
  2. Die bisherige BSG-Rechtsprechung, die für den Insolvenzgeldanspruch von einem spe-ziellen „arbeitsförderungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff“ ausgegangen ist, wird aufge-geben. (Rn. 15)
  3. Der Vorstand einer Aktiengesellschaft erfüllt regelmäßig nicht die Voraussetzungen, die das Arbeitsrecht an eine Arbeitnehmereigenschaft stellt. Das schließt jedoch nicht aus, dass diese in besonders gelagerten Fällen (wie hier) vorliegen. (Rn. 25)

(Redaktionelle Leitsätze)

Sachverhalt | BSG B 11 AL 4/20 R

Dem Kläger wurde als Vorstand der AG das geschuldete Arbeitsentgelt für August und September 2011 wegen Insolvenz nicht ausgezahlt. Die beklagte Bundesagentur für Arbeit (BA) lehnte den Antrag auf Insolvenzgeld mit dem Argument ab, der Kläger sei nicht Arbeitnehmer i.S.d. § 165 SGB III gewesen, da er als Vorstand eine unternehmerähnliche Position innegehabt habe.

In erster Instanz wurde die BA zur Zahlung von Insolvenzgeld verurteilt. Das SG war der Auffassung, der Kläger habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keine Tätigkeit als Vorstand ausgeübt. Er sei weisungsgebunden im Vertrieb der AG tätig gewesen. Die ihm rechtlich zustehenden Befugnissen als Vorstand habe er nicht genutzt. Auch das LSG folgte der Ansicht des SG. Die Arbeitnehmereigenschaft sei nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalles zu bestimmen.

Hiergegen legte die Beklagte Revision ein, da nach ihrer Ansicht Vorstandsmitglieder einer AG generell aus dem Schutzbereich der Insolvenzgeld-Versicherung ausgeschlossen seien. Dies ergebe sich auch aus der Regelung des § 27 Abs. 1 Nr. 5 SGB III, nach der die Versicherungsfreiheit ausschließlich an die Organstellung in der AG anknüpfe.

Entscheidung | BSG B 11 AL 4/20 R

Die Revision hatte keinen Erfolgt. Das BSG führte aus, dass gem. § 165 Abs. 1 SGB III Arbeitnehmer Anspruch auf Insolvenzgeld haben, wenn sie im Inland beschäftigt waren und bei einem Insolvenzereignis für die vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses noch Ansprüche auf Arbeitsentgelt haben. Das Gesetz definiere den insolvenzgeldrechtlichen Arbeitnehmerbegriff nicht. Dieser sei rein arbeitsrechtlich zu verstehen. Insoweit gibt das BSG seine Rechtsprechung auf, die für den Insolvenzgeldanspruch von einem speziellen „arbeitsförderungsrechtlichen Arbeitnehmerbegriff“ ausgegangen war.

Aus dem Wortlaut des § 165 Abs. 1 SGB III ergebe sich, dass es auf die Arbeitnehmereigenschaft ankomme („Arbeitnehmerinnen“ und „Arbeitnehmern“) und nicht auf eine Beschäftigung. Hier sei entscheidend, dass nach dem Gesetzeswortlaut Ansprüche auf Arbeitsentgelt noch bestünden, wovon alle Ansprüche auf Bezüge aus einem Arbeitsverhältnis betroffen seien. Solche Forderungen könnten denknotwendig nur einem Arbeitnehmer im arbeitsrechtlichen Sinne zustehen, § 611a BGB. Das Insolvenzgeld stellt eine „Entgeltersatzleistung“ bei Zahlungsunfähigkeit des Arbeitgebers dar. Es komme für den Bezug des Insolvenzgelds nicht darauf an, ob es sich bei der geleisteten Tätigkeit um eine versicherungspflichtige Beschäftigung (§§ 25 ff. SGB III) handele. Das BSG führt aus, dass dies aus der dogmatischen Einordnung des Insolvenzgelds folge. Es sei eben keine Versicherungsleistung im engeren Sinne der Arbeitslosenversicherung, sondern eine umlagefinanzierte Ausgleichsleistung, deren Kosten allein von den Arbeitgebern getragen werden. Das Insolvenzgeld solle das Risiko, das mit der Vorleistungspflicht des Arbeitnehmers einhergeht, ausgleichen. Die Versicherungsfreiheit von Vorständen einer AG nach § 27 SGB III sei deshalb ohne Belang für die Abgrenzung des insolvenzgeldberechtigten Personenkreises. Folglich hätten auch geringfügig Beschäftigte sowie Personen wie der Kläger, der zwar die formale Rechtsposition als Vorstand innehatte, tatsächlich und nach dem Arbeitsvertrag aber Arbeitnehmertätigkeiten ausübte, einen Anspruch auf Insolvenzgeld.

Nach den Feststellungen des LSG habe der Kläger durchgehend weisungsunterworfen im Vertrieb der Aktiengesellschaft gearbeitet.

Nach Rspr. des BAG gelte, dass wenn ein Arbeitnehmer im Rahmen seines bestehenden Arbeitsverhältnisses mit einer Kapitalgesellschaft zu deren Organ bestellt werde, in dem Abschluss des Anstellungsvertrags i.d.R. die konkludente Aufhebung des zuvor bestehenden Arbeitsvertrags liege. Bestünden Anhaltspunkte für einen entgegenstehenden Parteiwillen oder sei die in § 623 BGB vorgeschriebene Schriftform nicht gewahrt, sei davon auszugehen, dass der neue Dienstvertrag nur zum Ruhen des Arbeitsverhältnisses führe. Die wechselseitigen Rechte und Pflichten aus dem Arbeitsvertrag könnten nach Ende der Organstellung wieder aufleben. Das Arbeitsverhältnis des Klägers sei im zu entscheidenden Fall unverändert bis zum 30.09.2011 fortgeführt worden. Die Bestellung zum Vorstand am 27.06.2011 habe zu keiner Änderung der schuldvertraglichen Grundlage seiner Arbeitsleistung geführt. Auch der EuGH geht in gefestigter Rechtsprechung davon aus, dass die Eigenschaft einer Person als Mitglied eines Leitungsorgans einer Kapitalgesellschaft es nicht ausschließe, dass sich diese Person in einem Unterordnungsverhältnis gegenüber der betreffenden Gesellschaft befinde.

Praxishinweis | BSG B 11 AL 4/20 R

Der vorliegende Fall ist ein Sonderfall: Der Kläger war nur sehr kurze Zeit Vorstand und wurde weiterhin für seine Arbeit vergütet, die er auch inhaltlich weiterführte.

Trotzdem gilt für die Praxis: der „arbeitsförderungsrechtliche Arbeitnehmerbegriff“ wird vom BSG aufgegeben und der insolvenzrechtlichen Arbeitnehmerbegriff wird rein arbeitsrechtlich betrachtet.
Es bedarf nun einer am Einzelfall orientierten Betrachtung und Prüfung der konkreten Ausgestaltung des Anstellungsvertrags von Organmitgliedern. Mit der Bundesagentur für Arbeit sollte vor allem in Fällen der Insolvenzgeldvorfinanzierung zügig der Insolvenzgeldanspruch von Organmitgliedern abgestimmt werden.