07.02.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
EuGH
25.04.2024
C-276/22
ZIP 2024, 1192
Die Art. 49 und 54 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anwendbar ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.
Die Unternehmenstätigkeit der italienischen Gesellschaft SRL beschränkt sich auf die Verwaltung einer einzelnen Immobilie – ein Schloss in der Nähe von Rom. Im Jahr 2004 verlegte die Gesellschaft ihren Gesellschaftssitz nach Luxemburg, wo sie sich in eine luxemburgische Gesellschaft (STE) umwandelte und weiterhin die Immobilie verwaltete. Im Jahr 2010 wurde dem F als Generalbevollmächtigter von STE eine Vollmacht dahingehend erteilt, „alle erforderlichen Handlungen und Geschäfte umfassend und unbeschränkt, jedoch stets im Rahmen des Gesellschaftszwecks“ vorzunehmen.
Im Jahr 2012 übertrug F im Namen und auf Rechnung der STE das Eigentum am Schloss auf ST, welche es auf Edil Work 2 weiterübertrug. Im Jahr 2013 erhob STE vor einem italienischen Gericht in Rom Klage gegen ST und Edil Work 2 auf Nichtigerklärung der beiden Übertragungen des Eigentums am Schloss, da die streitige Vollmacht des F nach italienischem Recht rechtswidrig sei. Nachdem das erstinstanzliche Gericht die Vollmachtserteilung für rechtmäßig hielt und die Klage abwies, hat das Berufungsgericht dieses Urteil abgeändert, woraufhin St und Edil Work 2 beim italienischen Kassationsgerichtshof Rechtsmittel einlegten.
Dieses Gericht wies darauf hin, dass das italienische Recht gem. Art. 25 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 218/1995 die durch Verlegung des Gesellschaftssitzes in einen anderen Mitgliedstaat erfolgende Umwandlung italienischer Gesellschaften in ausländische Gesellschaften erlaube, sofern die Verlegung sowohl im Wegzugs- als auch im Zuzugsmitgliedstaat wirksam sei.
Fraglich sei, ob die Gründung von STE als luxemburgische Gesellschaft dazu führe, dass die Maßnahmen der Geschäftsführung dieser Gesellschaft, die ihren Tätigkeitsschwerpunkt hingegen in Italien beibehalten habe, dem luxemburgischen Recht unterworfen würden. Daher hat der Kassationsgerichtshof beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Stehen die Art. 49 und 54 AEUV dem entgegen, dass ein Mitgliedstaat, in dem eine Gesellschaft (mit beschränkter Haftung) ursprünglich gegründet wurde, auf diese die nationalen Bestimmungen über die Arbeitsweise und die Geschäftsführung der Gesellschaft anwendet, wenn die Gesellschaft, nachdem sie ihren Sitz verlegt und sich nach dem Recht des Zuzugsmitgliedstaats neu gegründet hat, ihren Tätigkeitsschwerpunkt im Wegzugsmitgliedstaat behält und die in Rede stehende Maßnahme der Geschäftsführung sich maßgeblich auf die Tätigkeit der Gesellschaft auswirkt?
Zunächst formulierte der EuGH die Vorlagefrage dahin um, dass das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 49 und 54 AEUV einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anzuwenden ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.
Nach Art. 49 i.V.m. Art. 54 AUEV haben nach dem Recht eines Mitgliedsstaats gegründete Gesellschaften – wie die luxemburgische STE – das Recht, ihre Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat auszuüben, wobei ihr satzungsmäßiger Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung dazu dienen, ihre Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Mitgliedstaats zu bestimmen. Mangels Vereinheitlichung im Unionsrecht falle die Definition der Anknüpfung gem. Art. 54 AEUV, die für das auf eine Gesellschaft anwendbare nationale Recht maßgeblich ist, in die Zuständigkeit jedes einzelnen Mitgliedstaats, da nach dieser Vorschrift der satzungsmäßige Sitz, die Hauptverwaltung und die Hauptniederlassung einer Gesellschaft als Anknüpfung für eine solche Verbundenheit gleich geachtet würden.
Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit i.S.v. Art. 49 AEUV seien alle Maßnahmen, die die Ausübung dieser Freiheit unterbinden, behindern oder weniger attraktiv machen. Eine Regelung eines Mitgliedstaats (wie Art. 25 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes Nr. 218/1995), nach der in einem anderen Mitgliedstaat ansässige Gesellschaften, die den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausüben, im Rahmen der Durchführung ihrer Geschäftsführungsmaßnahmen auch das Recht des erstgenannten Mitgliedstaats zu beachten haben, könne die Geschäftsführung solcher Gesellschaften erschweren, da diese danach verpflichtet sein könnten, die Anforderungen beider Regelungskomplexe zu erfüllen. Eine solche Regelung könne somit die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv machen, und stelle daher ein Hindernis für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit dar.
Fraglich sei jedoch, ob eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit, die sich aus einer Regelung wie Art. 25 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes Nr. 218/1995 ergebe, gleichwohl gerechtfertigt sein kann. Eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit sei nur gerechtfertigt, wenn zwingende Gründe des Allgemeininteresses vorliegen. Sie müsse außerdem geeignet sein, die Erreichung des fraglichen Ziels zu gewährleisten, und dürfe nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
Der von der italienischen Regierung angeführte Schutz der Interessen der Gläubiger, der Arbeitnehmer und der Minderheitsgesellschafter gehöre zwar zu den zwingenden Gründen des Allgemeininteresses. Allerdings gehe die nationale Regelung über das hinaus, was zum Schutz der genannten Interessen erforderlich ist, da sich jede Maßnahme der Geschäftsführung einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründet wurde, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in Italien ausübt, nach italienischem Recht zu richten hätte, und nicht geprüft werde, ob in einem konkreten Fall die Gefahr besteht, dass die Interessen der Gläubiger, der Minderheitsgesellschafter oder der Arbeitnehmer beeinträchtigt werden.
Darüber hinaus könne die Bekämpfung von Steuerumgehung und Steuerbetrug eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit i.S.v. Art. 49 AEUV rechtfertigen, wenn das spezifische Ziel der Beschränkung darin liege, Verhaltensweisen zu verhindern, die darin bestehen, rein künstliche, jeder wirtschaftlichen Realität bare Gestaltungen zu dem Zweck zu errichten, der Steuer zu entgehen, die normalerweise für durch Tätigkeiten im Inland erzielte Gewinne geschuldet wird. Es stelle allerdings für sich allein keinen Missbrauch dar, wenn eine Gesellschaft ihren – satzungsmäßigen oder tatsächlichen – Sitz nach dem Recht eines Mitgliedstaats begründet, um in den Genuss günstigerer Rechtsvorschriften zu kommen. Zudem könne allein der Umstand, dass eine Gesellschaft mit Sitz in einem Mitgliedstaat den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, nicht die allgemeine Vermutung der Steuerhinterziehung begründen und keine die Wahrnehmung einer vom AEUV garantierten Grundfreiheit beeinträchtigende Maßnahme rechtfertigen.
Die Regelung des Art. 25 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes Nr. 218/1995, dass auf jede Maßnahme der Geschäftsführung einer Gesellschaft, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in Italien ausübt, systematisch italienisches Recht anzuwenden ist, käme also einer Vermutung gleich, wonach die Verhaltensweisen einer solchen Gesellschaft stets missbräuchlich sind. Eine solche Regelung sei in Anbetracht der genannten Erwägungen unverhältnismäßig.
Demnach antwortete der EuGH auf die Vorlagefrage, dass die Art. 49 und 54 AEUV dahin auszulegen seien, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegenstehen, die allgemein vorsieht, dass dessen nationales Recht auf Maßnahmen der Geschäftsführung einer Gesellschaft anzuwenden ist, die in einem anderen Mitgliedstaat ansässig ist, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten im erstgenannten Mitgliedstaat ausübt.
Die italienische Vorschrift des Art. 25 Abs. 1 S. 2 des Gesetzes Nr. 218/1995 ist unionsrechtswidrig, da ausschließlich jede Maßnahme der Geschäftsführung einer Gesellschaft, die nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats wirksam gegründet wurde, aber den Hauptteil ihrer Tätigkeiten in Italien ausübt, nach italienischem Recht zu beurteilen wäre. Zur Herbeiführung der Rechtmäßigkeit müsste die Regelung nach den Ausführungen des EuGH dahingehend korrigiert werden, dass auf Geschäftsführungsmaßnahmen einer solchen Gesellschaft italienisches Recht nur anwendbar ist, sofern im konkreten Fall die Gefahr besteht, dass die Interessen der Minderheitsgesellschafter, der Gläubiger oder der Arbeitnehmer der Gesellschaft beeinträchtigt werden. Nur in einem solchen Fall stellt die Vorschrift keine ungerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit nach Art. 49 i.V.m. Art. 54 AEUV dar.