BGH II ZR 208/22
Anfechtbarkeit eines Hauptversammlungsbeschlusses einer nichtbörsennotierten AG wegen fehlender Stimmmehrheit nach erfolgtem Nachweis der Berechtigung zur Stimmenabgabe

09.06.2025

Leitsatz | BGH II ZR 208/22

  1. Die unwiderlegliche Vermutung des § 123 Abs. 4 Satz 5 AktG gilt nur für die in § 123 Abs. 4 AktG genannten Nachweise und ist nicht auf davon abweichende Satzungsbestimmungen über die Berechtigung zur Teilnahme an der Hauptversammlung oder zur Ausübung des Stimmrechts anwendbar.
  2. Für eine Inhaberaktien ausgebende nicht börsennotierte Aktiengesellschaft begründet § 123 Abs. 3 Halbsatz 1 AktG weitgehende Satzungsfreiheit, wie sie den Nachweis der Berechtigung zur Teilnahme an der Hauptversammlung oder zur Ausübung des Stimmrechts ausgestaltet.
     

Sachverhalt | BGH II ZR 208/22

Die Klägerin ist Aktionärin der Beklagten, welche eine nicht börsennotierten Aktiengesellschaft ist. Sie klagte gegen Beschlüsse der Hauptversammlung 2020, weil sie anzweifelte, dass die erforderlichen Mehrheiten, entgegen der Feststellung des Versammlungsleiters, vorlagen. Der Hintergrund ist folgender: der Nebenintervenient war bis zum Dezember 2019 Mehrheitsaktionär der Beklagten. Die Aktien wurde treuhänderisch verwahrt. Danach ging das Eigentum an den Aktien im Zusammenhang mit einer Verpfändung an eine luxemburgische S.A. über. Dieser Eigentumsübergang ist jedoch bis zur Urteilsverkündung streitig und Gegenstand eines anderen Verfahrens.
 
Im Juli 2020 teilte die S.A. dem Vorstand der Beklagten mit, dass sie vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie die Freigabe zum Erwerb einer Aktienmehrheit erhalten habe und dass ihr mehr als die Hälfte der Aktien gehören und sie somit mehrheitsbeteiligt ist. Der Nebenintervenient teilte der Beklagten wiederum mit, dass er noch Mehrheitsaktionär sei.
 
Im weiteren Verlauf lud die Beklagte zur Hauptversammlung. Laut Satzung sind nur Aktionäre teilnahme- und stimmberechtigt, die sich angemeldet und ihre Berechtigung nachgewiesen haben. Die S.A. meldete sich unter Vorlage eines Berechtigungsnachweises einer Partnerin der ursprünglichen Treuhänderin an. 
 
Bei der Hauptversammlung wurden die nun infrage stehenden Beschlüsse gefasst.

Entscheidung | BGH II ZR 208/22

Die Revision hat keinen Erfolg. Der BGH bestätigte die Entscheidung der Vorinstanz in der Art, dass die Hauptversammlungsbeschlüsse nicht wegen mangelnder Beschlussfähigkeit der Hauptversammlung oder fehlender Stimmmehrheit anfechtbar sind.
 
Das OLG Stuttgart, als Vorinstanz, begründete die Entscheidung damit, dass sich die Beklagte als nicht börsennotierte Aktiengesellschaft auch auf die Vermutung des § 123 Abs. 4 Satz 5 AktG berufen kann, welche aussagt das ein bis zum Stichtag erbrachter Nachweis der Anteilsbesitzes der Aktien die Wahrnehmung der Mitgliedschaftsrechte ermöglicht, unabhängig von einer tatsächlichen Berechtigung.

Zwar hält die Begründung der Vorinstanz nicht stand, jedoch ist die Entscheidung aus anderen Gründen richtig. Daher ist die Revision nach § 561 ZPO zurückzuweisen.

Der BGH entschied, dass die unwiderlegliche Vermutung in § 123 Abs. 4 Satz 5 AktG nur für die in § 123 Abs. 4 genannten Nachweise gilt und nicht für abweichende Bestimmungen in der Satzung einer Aktiengesellschaft. In § 123 Abs. 4 AktG werden Nachweise des Anteilsbesitzes an börsennotierten Aktiengesellschaften an feste Stichtage gebunden. Der Nachweis erfolgt nach § 123 Abs. 4 Satz 1 iVm. § 67c Abs. 3 AktG durch den Letztintermediär. Intermediäre sind nach § 67a Abs. 4 AktG nur Personen, die Dienstleistungen zur Verwahrung oder Verwaltung von Wertpapieren anbieten oder Depotkonten führen. In der Regel handelt es sich dabei um Banken.
 
Nichtbörsennotierte Aktiengesellschaften können hingegen aufgrund ihrer Satzungsautonomie die Anforderungen für Nachweise ändern, jedoch fällt dann die Vermutung nach Nachweiserbringung weg.

Die Beklagte ist eine nichtbörsennotierte Aktiengesellschaft, weshalb sie sich gegenüber der Klägerin nicht auf die Vermutung des § 123 Abs. 4 Satz 5 AktG berufen kann. Außerdem erfolgte der Nachweis des Anteilsbesitzes der S.A. durch die verwahrende Treuhänderin, welche eine LLP ist und keine Bank.

Jedoch durfte die Beklagte als nichtbörsennotierte Aktiengesellschaft in ihrer Satzung hinsichtlich der Anforderungen an den Nachweis von § 123 Abs. 4 AktG abweichen. § 123 Abs. 3 Halbsatz 1 AktG statuiert die Satzungsfreiheit einer Aktiengesellschaft hinsichtlich der Berechtigung an der Teilnahme an einer Versammlung der Aktionäre. Die einzige Einschränkung dieser Satzungsfreiheit besteht darin, dass die abweichende Satzungsregelung hinreichend bestimmt sein muss und den Zugang für Aktionäre zur Versammlung nicht unangemessen erschweren darf.
 
Die Satzung der Beklagten verkürzt die Anforderungen an den Nachweis in der Gestalt, dass dieser durch ein in- oder ausländisches Kredit- oder Finanzdienstleistungsinstitut als depotführendem Institut, von einem deutschen Notar, der Gesellschaft selbst oder einen sonstigen von der Gesellschaft als ausreichend angesehenen Nachweis erbracht werden kann. Die sonstigen Nachweise sind nach Auslegung der Satzung mit den anderen aufgeführten Varianten vergleichbar. Daher ist die Satzung hinreichend bestimmt im Sinne des § 123 Abs. 3 AktG. Eine solche „Öffnungsklausel“ ist zulässig und gängige Praxis.
 
Der Nachweis erfolgte durch eine Partnerin der ursprünglichen Treuhänderin und wurde durch die Beklagte als ausreichend erachtet. Diese anwaltliche Erklärung ist mit den sonst aufgeführten Regelbeispielen hinsichtlich der Richtigkeitsgewähr vergleichbar. Die Beklagte hatte keine Anhaltspunkte an der Richtigkeit zu zweifeln, insbesondere in Anbetracht dessen, dass der Nachweis über den Anteilsbesitz der S.A. erst nach Freigabe durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie erfolgte. Die streitige Eigentumslage der Aktien ist mit Hinblick auf die Eigentumsvermutung des Besitzers in § 1006 BGB irrelevant. Die Gesellschaft ist bei der Zulassungsbescheinigung nicht verpflichtet die wahre Eigentumslage zu ergründen. 

Daher entspricht der Nachweis der in der Satzung aufgeführten Anforderungen. Die Beklagte durfte die S.A. zur Teilnahme an der Hauptversammlung zulassen und die S.A. durfte rechtmäßig an der Beschlussfassung mitwirken. Die Beschlüsse der Hauptversammlung halten der rechtlichen Prüfung stand.
 

Praxishinweis | BGH II ZR 208/22

  1. Die Vermutung in § 123 Abs. 4 Satz 5 AktG gilt nur für die in § 123 Abs.4 AktG aufgeführten Nachweise.
  2. Nicht börsennotierte Aktiengesellschaften können die Anforderungen an Nachweise an Inhaberschaften aufgrund der Satzungsfreiheit anpassen, solange diese hinreichend bestimmt sind und den Zugang zu Aktionärsversammlungen nicht unverhältnismäßig verkürzen.
  3. Eine Öffnungsklausel in der Satzung, welche die Beurteilung der Qualität des Nachweis in das Ermessen der Gesellschaft setzt, ist grundsätzlich zulässig.
  4. Die Aktiengesellschaft ist ohne entgegenstehende Ansatzpunkte nicht verpflichtet die wahre Eigentumslage der Inhaberaktien zu überprüfen.