BGH II ZR 154/23
Dieselskandal: BGH kippt Vergleichsbeschluss wegen Nichtigkeit von HV-Beschlüssen nach unzureichender Einladung/Tagesordnung

30.09.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BGH
30.09.2025
II ZR 154/23
n. v.

Leitsatz | BGH II ZR 154/23

  1. Ein Hauptversammlungsbeschluss über die Zustimmung zu einem Vergleich ist nichtig, wenn die Einberufung den Anforderungen des § 121 Abs. 3 S. 2 AktG nicht genügt und wesentliche Beschlussgegenstände – hier: der Verzicht auf Ansprüche gegenüber sämtlichen Organmitgliedern – nicht in der Tagesordnung zur Einberufung aufgeführt sind.
  2. Unvollständige oder nicht nachvollziehbare Auskünfte zur finanziellen Leistungsfähigkeit ehemaliger Vorstandsmitglieder sind im Rahmen der Beschlussfassung über Haftungsvergleiche (§ 93 Abs. 4 S. 3 AktG) sind nach § 243 Abs. 1, Abs. 4 AktG anfechtbar.
  3. Ein Verstoß gegen § 57 Abs. 1 AktG (Verbot der Einlagenrückgewähr) sowie die Sperrfrist des § 93 Abs. 4 S. 3 AktG liegt in Haftungsvergleichen nicht bereits deshalb vor, weil die Gesellschaft Freistellungen zugunsten von Organmitgliedern vereinbart, solange keine verdeckte Rückgewähr an Aktionäre vorliegt und die Dreijahresfrist gewahrt ist. 

Sachverhalt | BGH II ZR 154/23

Im Juni 2021 schloss die Volkswagen AG Haftungsvergleiche mit ihrem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn und einem weiteren früheren Vorstandsmitglied. Hintergrund war die Erkenntnis aus einem Untersuchungsbericht, dass beide ihre Pflichten im Zusammenhang mit dem sog. „Dieselskandal“ fahrlässig verletzt hatten, da sie Hinweise auf unzulässige Abschalteinrichtungen nicht zum Anlass einer sofortigen Aufklärung genommen hatten.

Die beiden Ex-Vorstände verpflichteten sich, als sogenannte Eigenbeiträge Beträge in Höhe von 11,2 Mio. € bzw. 4,1 Mio. € an die Volkswagen AG zu leisten. Hinzu kamen Zahlungen der D&O-Versicherer in Höhe von rund 270 Mio. €. Im Gegenzug sagte Volkswagen zu, die ehemaligen Vorstandsmitglieder von bestimmten Drittansprüchen freizustellen. Zusätzlich verpflichtete sich die AG im Rahmen eines Deckungsvergleichs mit den Versicherern, auch sämtliche weitere ehemaligen wie amtierenden Organmitglieder dauerhaft nicht mehr in Anspruch zu nehmen.

Über diese Vereinbarungen ließ die AG in der Hauptversammlung vom 22.07.2021 abstimmen. Mit Mehrheiten von über 99 % stimmten die Aktionäre den Vergleichen zu. Im Anschluss erklärten einige Kapitalanlegerschutzvereinigungen, die als Aktionäre beteiligt waren, Widerspruch zur Niederschrift und klagten sodann vor dem LG Hannover auf Nichtigerklärung bzw. Anfechtung der Zustimmungsbeschlüsse. Sie monierten u.a., die Einladung zur Hauptversammlung wegen mangelnder Bestimmtheit wesentlicher Tagesordnungspunkte formfehlerhaft gewesen. Das gelte insbesondere für die Vergleichsvereinbarungen.

Das LG Hannover (Urt. v. 12.10.2022 - 23 O 63/21) wies die Klage ab. Das OLG Celle bestätigte die Entscheidung im Wege der Berufung (Urt. v. 29.11.2023 - 9 U 93/22). Mit der dann zugelassenen Revision verfolgten die Kläger ihre Anträge weiter.

Entscheidung | BGH II ZR 154/23

Der BGH gab der Revision teilweise statt. Hinsichtlich der Zustimmungsbeschlüsse zu den Haftungsvergleichen verwies er die Sache zur erneuten Verhandlung an das OLG zurück. Insoweit konnte noch nicht abschließend beurteilt werden, ob die Informationsrechte der Aktionäre hinreichend gewahrt wurden. Insbesondere seien die bisher erteilten Angaben zur Leistungsfähigkeit der Vorstandsmitglieder, etwa über deren Einkünfte, nicht ausreichend, um ihre wirtschaftliche Situation und damit Deckungskraft möglicher Ansprüche gegen sie nachvollziehbar zu beurteilen.

Hinsichtlich der Vergleichsvereinbarung erklärte der BGH den Zustimmungsbeschluss der Hauptversammlung wegen fehlerhafter Tagesordnung für nichtig. Es wurde nicht hinreichend transparent gemacht, dass die Hauptversammlung einen umfassenden Verzicht auf die Inanspruchnahme sämtlicher übriger Organmitglieder erklärt. Insoweit genüge sie nicht den Anforderungen an die Einberufung nach § 121 Abs. 3 S. 2 AktG. Insbesondere musste ein durchschnittlicher Aktionär nicht damit rechnen, eine derart weitreichende Verzichtserklärung erst in den Erläuterungen zu finden.

Den Ausführungen der Kläger zur Nichtigkeit wegen § 57 AktG (Einlagenrückgewähr) oder wegen der Nichteinhaltung der Sperrfrist des § 93 Abs. 4 S. 3 AktG ist der BGH hingegen nicht gefolgt. Weder seien die Vergleiche als verbotene Rückgewähr von Einlagen an Aktionäre zu werten noch sei die gesetzliche Dreijahresfrist missachtet worden.

Praxishinweis | BGH II ZR 154/23

Die Entscheidung stärkt die Informations- und Auskunftsrechte von Aktionären. Wird die finanzielle Leistungsfähigkeit ehemaliger Organmitglieder als Argument für einen Vergleich nach § 121 Abs. 3 S. 2 AktG herangezogen, müssen hierzu substantielle Angaben erfolgen. Eine bloße Wiedergabe von Einkommen oder abstrakten Erwägungen genügt nicht. Andernfalls droht die Anfechtbarkeit nach § 243 AktG. Gleichwohl zeigt der Fall, dass die praktische Angreifbarkeit solcher Beschlüsse nicht in der materiellen Vergleichsangemessenheit, sondern vor allem in Form- und Transparenzfragen liegt. Insofern bleiben Haftungsvergleiche zulässig, wenn sie den Rahmen des § 93 Abs. 4 AktG einhalten und nicht gegen Kapitalerhaltungsvorschriften verstoßen.