LG München I 5 HKO 17452/21
Vorstands- und Aufsichtsratshaftung wegen Darlehensvergabe ohne hinreichende Sicherheiten

26.09.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

LG München I
05.09.2024
5 HKO 17452/21
AG 2025, 281

Leitsatz | LG München I 5 HKO 17452/21

  1. Die Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast für einen auf § 93 Abs. 2 S. 1 AktG gestützten Schadensersatzanspruch gelten auch gegenüber ausgeschiedenen Vorstandsmitgliedern.
  2. Die Vergabe eines Darlehens ohne Sicherheiten muss bereits als objektiv pflichtwidrig bezeichnet werden. Die innerhalb des Bankensektors geltenden Grundsätze, Kredite grundsätzlich nicht ohne übliche Sicherheiten zu gewähren, gelten auch außerhalb des Bankensektors; eine völlig ungesicherte Kreditvergabe an einen finanzschwachen Vertragspartner wird als unvertretbares Risiko und als gegen die Sorgfaltspflicht eines ordnungsgemäßen Geschäftsmanns verstoßend gewertet.
  3. Eine lediglich schuldrechtlich wirkende Verpflichtung zur Verpfändung von Forderungen ist kein hinreichendes Sicherungsmittel.
  4. Ein nicht unmittelbar ressortzuständiges Vorstandsmitglied handelt pflichtwidrig, wenn Anhaltspunkte dafür bestehen, dass das zuständige Vorstandsmitglied in seinem Arbeitsbereich die Geschäfte nicht ordnungsgemäß führt. Auf den Vertrauensschutz kann es sich nicht berufen, nachdem es Anhaltspunkte für eine nicht ordnungsgemäße Geschäftsführung durch unmittelbar ressortverantwortliche Vorstandsmitglieder haben musste.
  5. Eine möglicherweise zweckwidrige Verwendung der Darlehensvaluta durch ein anderes Vorstandsmitglied lässt den Zurechnungszusammenhang und damit die ebenfalls zu bejahende adäquate Kausalität nicht entfallen.
  6. Im Vorfeld einer Entscheidung über die Zeichnung von Schuldverschreibungen gehört es zu den elementaren Pflichten eines jeden Vorstandsmitglieds, jedenfalls die Grundlagen, auf denen diese unternehmerische Entscheidung beruht, in geschäftsüblicher, sorgfältiger Weise aufzuklären. Dazu zählt die Durchführung einer Financial Due Diligence über die Werthaltigkeit und Existenz der verbrieften Forderung.
  7. Hat der Vorstand in der Vergangenheit Zustimmungserfordernisse des Aufsichtsrates missachtet, besteht für den Aufsichtsrat die Pflicht, auf eine Verschärfung der Zustimmungserfordernisse hinzuwirken, um die gebotene präventive Kontrolle zu verstärken.
  8. Wenn der Vorstand in der Vergangenheit entsprechende Vorgaben aus der Geschäftsordnung missachtet hat, kann nicht zwingend von einer Kausalität zwischen der Pflichtverletzung durch Unterlassen der Änderung der Zustimmungserfordernisse und den vorgenommenen Geschäften des Vorstands ausgegangen waren. 
     

Sachverhalt | LG München I 5 HKO 17452/21

Die Entscheidung des Landgerichts München I behandelt einen Teilbereich aus dem Gesamtkomplex der fahrlässigen Vorstands- und Aufsichtsratshaftung bei der Vornahme von Hochrisikogeschäften. Kläger ist der über das Vermögen der Wirecard AG, einem international tätigen Zahlungsdienstleister, bestellte Insolvenzverwalter. Bei den Beklagten handelt es sich um ehemalige Vorstände der Wirecard AG und den ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates.

Im Jahr 2016 wurden erstmalig einem Geschäftspartner der Wirecard AG Darlehen in Höhe von ca. 10 Mio. EUR gewährt. Nach Verlängerungen des Darlehens kam es im November 2018 in Umsetzung eines Vorstandsbeschlusses der Wirecard AG zum Abschluss eines Darlehensvertrages in Höhe von 100 Mio. EUR mit einer Laufzeit von einem Jahr. Damit wurde das Ziel verfolgt, das „Merchant Cash Advanced-Geschäft“ („MCA“) in Asien aufzubauen. Dabei erhält der Händler einen Betriebsmittelkredit. Dieser wird bei künftig abgewickelten Kreditkartenzahlungen durch einen anteiligen Eigenbehalt kompensiert. Der Vorstand stellte im Rahmen seiner Beschlussfassung auf die erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Geschäftspartner ab und sah von der Stellung einer Sicherheit ab. Der Aufsichtsrat stimmte der Darlehensauszahlung erst nachträglich zu, obwohl die Geschäftsordnung für den Vorstand ursprünglich eine vorherige Zustimmung bei Kreditbeträgen von mehr als 10 Mio. EUR vorsah. Im Jahr 2019 wurde die Geschäftsordnung des Vorstands dahingehend modifiziert, dass eine Zustimmung des Aufsichtsrates erst dann notwendig war, wenn der Darlehensbetrag 80 Mio. EUR übersteigt. Im März 2020 beschloss der Vorstand der Wirecard AG im Umlaufverfahren, dem Geschäftspartner ein Anschlussdarlehen in Höhe von weiteren 100 Mio. EUR ohne Sicherheiten zu gewähren. Der Vorstand sollte den Aufsichtsrat im Nachgang über die Ausgabe des Anschlussdarlehens in Kenntnis setzen. Zudem beschloss der Vorstand die Zeichnung von Schuldverschreibungen in Höhe von 100 Mio. EUR mit dem Ziel, die Kreditvergabe als Finanzierungsform abzulösen. Der beauftragte Rechtsanwalt der Wirecard AG wies sodann darauf hin, dass vor einer Zeichnung eine Due Diligence über die verbrieften Forderungen durchzuführen sei. Due Diligence meint einen gründlichen Untersuchungs- und Bewertungsprozess von Unternehmen, Personen, Produkten oder Dienstleistungen, bevor eine Entscheidung mit finanziellem oder rechtlichem Einfluss getroffen wird. Damit sollen insbesondere Erkenntnisse über potenzielle Risiken und Chancen gewonnen werden. Im Rahmen der Prüfung von Verdachtsmomenten, dass der Geschäftspartner der Wirecard AG tatsächlich gar kein  MCA-Geschäft betreibe, wurde ein Wirtschaftsprüfer mit der Untersuchung beauftragt. Kurz vor Abschluss des Anschlussdarlehensvertrages führte dieser im Rahmen eines Zwischenberichts aus, dass eine abschließende Bewertung des MCA-Geschäfts wegen noch ausstehender Auswertungen zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich sei. Der Geschäftspartner der Wirecard AG wurde zahlungsunfähig. Ein Rückfluss des Darlehens war nicht mehr zu erwarten. Der Insolvenzverwalter forderte nun von den Vorstandsmitgliedern und dem ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates Schadensersatz. Er stützt seine Ansprüche auf Organhaftung aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG und wirft den Vorständen Pflichtverletzungen in Gestalt der Vergabe eines ungesicherten Darlehens und der Zeichnung von Schuldverschreibungen ohne Risikoprüfung vor. 

Entscheidung | LG München I 5 HKO 17452/21

Das Landgericht hat der Klage des Insolvenzverwalters nur zum Teil stattgegeben. 
Die Klage ist, soweit sie sich gegen die Vorstandsmitglieder der Wirecard AG richtet, begründet. Die Kammer bejahte eine Verantwortlichkeit der Vorstände, wegen der Verletzung ihrer Sorgfaltspflichten nach § 93 Abs. 1 S. 1 AktG. Prüfungsmaßstab ist die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns. Die Schadensersatzverpflichtung ergibt sich aus § 93 Abs. 2 S. 1 AktG, wonach Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen, der Gesellschaft zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet sind. 

Eine Pflichtverletzung der ehemaligen Vorstandsmitglieder liegt zunächst darin, dass das gewährte Darlehen nicht besichert wurde. Geschäftsführung impliziert zwar riskante und gegebenenfalls nachteilige Entscheidungen. Dem Vorstand einer Gesellschaft ist deshalb außerhalb zwingender Verhaltensvorgaben ein weitreichender Beurteilungsspielraum zuzubilligen, der für jegliche unternehmerische Tätigkeit denknotwendig ist. Die wirtschaftliche Zweckmäßigkeit der unternehmerischen Entscheidung unterliegt keiner gerichtlichen Kontrolle. Das Gericht darf auf nicht eine eigene unternehmerische Entscheidung an Stelle des Vorstandes vornehmen. Allerdings ist dieser von der in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG gesetzlich normierten Business Judgment Rule eingeräumte Handlungsspielraum überschritten, wenn aus Sicht eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsmannes das hohe Risiko eines Schadenseintritts vorliegt und keine vernünftigen geschäftlichen Gründe dafür sprechen, dieses Risiko dennoch einzugehen. Die hier erfolgte Darlehensvergabe über 100 Mio. EUR ohne Sicherheiten beurteilt die Kammer bereits als objektiv pflichtwidrig. Das Landgericht sieht eine ungesicherte Kreditvergabe an einen finanzschwachen Vertragspartner als ein Risiko, welches sich nicht mehr im Bereich des Vertretbaren bewegt und gegen die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Kaufmanns verstößt. Die beklagten Vorstandsmitglieder hatten zwar einen Mangel an Hinweisen auf eine unzureichende Liquidität der Darlehensnehmerin vorgetragen. Nach Auffassung der Kammer hätten sie allerdings Zugriff auf hinreichende Unterlagen zur Überprüfung der Liquidität gehabt. Wegen der bestehenden Verdachtsmomente können sich die beklagten Vorstandsmitglieder auch nicht auf eine Ressortverteilung bzw. den Vertrauensgrundsatz im Hinblick auf das pflichtgemäße Handeln der anderen Vorstandsmitglieder berufen. Sie haben die im Verkehr erforderliche Sorgfalt verletzt, damit fahrlässig im Sinne des § 276 Abs. 2 BGB gehandelt und die Pflichten bei der Darlehensvergabe somit auch schuldhaft verletzt. 

In der Zeichnung von Schuldverschreibungen sieht das Landgericht die zweite fahrlässig begangene Pflichtverletzung der Vorstandsmitglieder. Eine echte Due Diligence zur Überprüfung von Werthaltigkeit und Existenz der verbrieften Forderungen hat nicht stattgefunden. Insbesondere aufgrund der bereits bekannten Verdachtsmomente gegen den Geschäftspartner hätte eine Kreditvergabe in dieser Höhe nicht ohne eine Risikoprüfung erfolgen dürfen. Auf deren Notwendigkeit wurde auch durch den beauftragten Rechtsanwalt hingewiesen. Damit haben die Vorstände den objektivierten branchenüblichen Standard nicht eingehalten.
 
Der Wirecard AG ist durch die Pflichtverletzungen der ehemaligen Vorstandsmitglieder ein kausaler Schaden in Höhe von 140 Mio. EUR entstanden, nachdem von den ausgezahlten Beträgen in Höhe von insgesamt 200 Mio. EUR lediglich 60 Mio. EUR an sie zurückgeflossen sind. 

Soweit sich die Klage gegen den ehemaligen stellvertretenden Vorsitzenden des Aufsichtsrates richtet, ist sie unbegründet. Dieser hat zwar seine Überwachungspflicht nach § 111 Abs. 1 AktG als zentrale Aufgabe eines jeden Aufsichtsratsmitglieds im Zusammenhang mit dem Abschluss des Darlehensvertrages verletzt und hätte auf eine gebotene Verschärfung der Zustimmungserfordernisse zu einer Darlehensvergabe in entsprechender Höhe drängen müssen. Allerdings ist die Kammer nicht von der Kausalität zwischen der Pflichtverletzung, also der unterbliebenen Anpassung der Geschäftsordnung des Vorstandes für die entsprechenden Rechtsgeschäfte, und dem Schaden überzeugt. Da es sich hier um ein Unterlassen handelt, ist für die Annahme von Kausalität maßgeblich, ob es beim Hinzudenken der unterlassenen Handlung nicht zum Abfluss von 100 Mio. EUR gekommen wäre. Dies kann nicht mit Sicherheit angenommen werden, denn der Vorstand hat bereits in der Vergangenheit aktienrechtliche Vorgaben im Zusammenwirken von Vorstand und Aufsichtsrat nicht stets eingehalten. 

Praxishinweis | LG München I 5 HKO 17452/21

Das Landgericht München I hat in seiner Entscheidung zur rechtlichen Bewertung von Hochrisikogeschäften eine breite Palette an relevanten Fragen gestreift und entsprechend eingeordnet. Die acht Leitsätze der Entscheidung liefern einen Katalog, an dem sich Vorstände und Berater zukünftig orientieren sollten. Das Landgericht München I spricht dabei auch relevante Fragestellungen an, die bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden sind, beispielsweise die Übertragung der Grundsätze aus dem Bankensektor zur Frage der Pflichtwidrigkeit der Darlehensvergabe ohne Sicherheit oder das Abstellen auf ein „kriminelles Alternativverhalten“ bei der Frage der Kausalität eines getäuschten Aufsichts-/Prüfungsorgans (Junkers/Kappel, jurisPR-Compl 1/2025 Anm. 1).

Gegen das Urteil ist Berufung vor dem OLG München anhängig (Az. 23 U 3359/24 e).