BFH II R 38/22
Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln im Rahmen der Bewertung für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer

14.04.2025

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

BFH
20.11.2024
II R 38/22
juris

Leitsatz | BFH II R 38/22

Die Anwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer im Rahmen von § 14 Abs. 1 des Bewertungsgesetzes verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 des Grundgesetzes. 

Sachverhalt | BFH II R 38/22

Der Kläger und seine beiden Geschwister erhielten im Rahmen eines notariellen Vertrags zur vorweggenommenen Erbfolge im Jahr 2014 jeweils 23,33 % der Anteile ihres Vaters an einer GmbH, ohne hierfür eine Gegenleistung zu erbringen oder ausgleichspflichtig im Sinne der §§ 2050 ff. BGB zu sein. Der Vater behielt sich ein lebenslanges, unentgeltliches Nießbrauchsrecht an den übertragenen Anteilen vor und verpflichtete sich im Vertrag, während der Dauer des Nießbrauchs sämtliche damit verbundenen Lasten zu tragen.

Das Finanzamt (Beklagter) setzte im August 2021 Schenkungsteuer in Höhe von 1.918 € gegen den Kläger fest. Grundlage war ein Anteilswert von 781.864 €, wovon der Kapitalwert des Nießbrauchs in Höhe von 354.406 € abgezogen wurde, da der Nießbrauch die Bereicherung des Klägers und die Bemessungsgrundlage für die Schenkungsteuer minderte. Dieser Kapitalwert wurde berechnet, indem der Jahreswert des Nießbrauchs mit dem sich aus der voraussichtlichen Lebenserwartung des Vaters ergebenden Vervielfältiger multipliziert wurde. Gemäß § 14 BewG sind diese Vervielfältiger auf Basis der jeweils aktuellen Sterbetafel des Statistischen Bundesamtes zu ermitteln. Das Bundesministerium der Finanzen veröffentlicht diese regelmäßig – differenziert nach Geschlecht sowie nach dem vollendeten Lebensalter der berechtigten Person.

Die gegen den Steuerbescheid erhobene Sprungklage wies das Finanzgericht ab. Mit der Revision rügte der Kläger insbesondere die Verwendung geschlechterdifferenzierender Sterbetafeln bei der Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschaft- und Schenkungsteuer im Rahmen von § 14 Abs. 1 BewG als verfassungswidrig. Die Unterscheidung zwischen Männern und Frauen bei der steuerlichen Bewertung verstoße seiner Ansicht nach gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG.

Er beantragte die vollständige Aufhebung des Urteils und die Festsetzung der Schenkungsteuer auf 0 €. Das Finanzamt hingegen beantragt die Zurückweisung der Revision.
 

Entscheidung | BFH II R 38/22

Der Bundesfinanzhof (BFH) wies die Revision des Klägers gegen die Festsetzung der Schenkungsteuer als unbegründet zurück. Er bestätigte die Entscheidung des Finanzgerichts und erteilte insbesondere den verfassungsrechtlichen Bedenken des Klägers in Bezug auf Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG eine Absage. Eine Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 FGO und eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur verfassungsgerichtlichen Prüfung, ob § 14 Abs. 1 BewG mit Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG vereinbar ist, lehnte der BFH dementsprechend ab. 

Indem § 14 Abs. 1 BewG zur Bestimmung der Vervielfältiger, die bei der Ermittlung des Kapitalwerts eines lebenslänglichen Nießbrauchs anzuwenden sind, unmittelbar an die sich aus den Sterbetafeln ergebende statistisch unterschiedliche Lebenserwartung von Männern und Frauen anknüpfe (vgl. § 14 Abs. 1 Satz 4 BewG), führe die Regelung zwar insoweit zu einer geschlechterbedingten steuerlichen Ungleichbehandlung von Männern und Frauen, als der zu versteuernde Kapitalwert des Nießbrauchs zugunsten einer Frau aufgrund ihrer statistisch höheren Lebenserwartung entsprechend höher ausfalle als bei einem (gleichaltrigen) Mann. Diese (zumindest mit einer unmittelbaren Benachteiligung wegen des eigenen Geschlechts i.S.d. Art. 3 Abs. 3 Satz 3 GG gleichzusetzende, da nicht unmittelbar das Geschlecht des Klägers betreffende) Ungleichbehandlung wertete der BFH jedoch als verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die Regelung diene dem legitimen Ziel mit Verfassungsrang, den tatsächlichen wirtschaftlichen Kapitalwert lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen für Zwecke der Erbschafts- und Schenkungssteuer realitätsnah zu erfassen und entsprechend dem Leistungsfähigkeitsgrundsatz der Besteuerung zugrunde zu legen und so eine gleichheitsgerechte Besteuerung sicherzustellen, wobei die Regelung sich auch als geeignet und erforderlich darstelle. 

Im Rahmen der gebotenen Abwägung überwog aus Sicht des BFH zudem das Interesse an einer realitätsgerechten, leistungsfähigkeitsbezogenen Besteuerung das Interesse an einer geschlechtsneutralen Bewertung. Eine geschlechtsneutrale Durchschnittsbewertung führe nach Ansicht des Senats zu Verzerrungen, da der mit einer Erbschaft oder Schenkung verbundene Vermögenszuwachs nicht mehr (annäherungsweise) gemäß seinem tatsächlichen Wert erfasst und der daraus resultierende Zuwachs an Leistungsfähigkeit im Rahmen der Bemessungsgrundlage nicht mehr hinreichend genau abgebildet werden würde. Bei der Abwägung sei außerdem zu beachten, dass der höhere Kapitalwert eines Zuwendungsnießbrauchs bei Frauen, der sich aus der Nutzung geschlechtsspezifischer Vervielfältiger ergebe, lediglich Ausdruck einer höheren Bereicherung sei, weil statistisch betrachtet mit der höheren Lebenserwartung eine längere Dauer der Berechtigung einhergehe. Die Verwendung geschlechtsdifferenzierender Sterbetafeln nach § 14 Abs. 1 BewG diene somit gerade dem Ziel, eine wirtschaftlich gleichwertige Behandlung von Männern und Frauen sicherzustellen.

Dass es sich bei den Vervielfältigern um statistische Annahmen handelt, hielt der BFH für hinnehmbar, zumal atypischen Fällen über § 14 Abs. 2 BewG Rechnung getragen würde.

Praxishinweis | BFH II R 38/22

Die vorliegende und im Wesentlichen mit den Urteilen des BFH vom 20. November 2024 (Az. II R 41/22 und II R 42/22) inhaltsgleiche Entscheidung ist im Hinblick auf die damit geschaffene Rechtsklarheit besonders begrüßenswert. Zu berücksichtigen ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass die Entscheidungen des BFH zur Rechtslage im Jahr 2014 erging. Nicht Teil der Entscheidung war, welche Auswirkungen sich aus dem am 1.11.2024 in Kraft getretenen Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag für die Bewertung lebenslänglicher Nutzungen und Leistungen ergeben, sodass abzuwarten bleibt, wie hier zukünftig entschieden wird.