14.11.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
BGH
31.07.2025
IX ZR 32/24
DStR 2025, 2031
Insolvenzanfechtung bei Gläubigerbenachteiligung wegen Scheinarbeitsverhältnissen [ PDF ]
Der A. W. e.V. (Schuldner) war als gemeinnütziger Verein tätig. Die frühere Geschäftsführerin, H. R., erhielt auf Basis ihres Geschäftsführervertrags ein Jahresbruttogehalt von 130.000 EUR sowie zusätzliche Gehaltszuschläge, sodass ihre Gesamtbezüge zwischen 2017 und Januar 2020 zwischen rund 21.800 EUR und 433.218 EUR lagen. Der kaufmännische Leiter und stellvertretende Vereinsvorstand, M. B., erhielt ein Grundgehalt von 92.300 EUR bzw. später 147.131 EUR zuzüglich 13. Monatsgehalt und Zusatzvereinbarungen; seine Gesamtjahresbezüge lagen von 2017 bis Januar 2020 zwischen 16.147 EUR und 238.147 EUR.
Der Sohn der Geschäftsführerin, G. R., war ab Juni 2015 zunächst als wissenschaftlicher Mitarbeiter und später in leitender Position beschäftigt. Seine Bruttojahresbezüge lagen 2017 bei rund 105.000 EUR, 2018 bei 124.400 EUR und 2019 bei 177.500 EUR. Zudem bestanden Arbeitsverträge zwischen dem Verein und vier weiteren Personen, die in persönlicher Verbindung zu Organmitgliedern oder Arbeitnehmern des Vereins standen.
Der Schuldner führte für alle genannten Personen Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer nach den tatsächlich gezahlten Bezügen ab. Im Rahmen einer Lohnsteueraußenprüfung für 2013–2016 wurden zusätzliche Nettobezüge festgestellt, für die das Finanzamt am 16. Februar 2018 nachträglich Steuerzahlungen von insgesamt 337.117,49 EUR festsetzte, die der Schuldner am 20. März 2018 bezahlte.
Am 1. November 2018 beauftragte der Verein die T. G. GmbH mit der Suche und Verhandlung für ein Grundstücksverkaufsobjekt; der Kaufvertrag wurde am 28. März 2019 abgeschlossen. Die neu gegründete T. B. GmbH stellte dem Verein am 15. Juli 2019 eine Rechnung über vereinbarte Leistungen, die der Verein zahlte, in der Umsatzsteuervoranmeldung erfasste und am 23. Oktober 2019 eine Umsatzsteuervorauszahlung von 220.400 EUR leistete.
Am 1. Februar 2021 eröffnete das Insolvenzgericht ein Insolvenzverfahren über das Vermögen des Schuldners in Eigenverwaltung; der Kläger wurde als Sachwalter bestellt. Das Verfahren wurde am 2. Dezember 2021 nach Bestätigung des Insolvenzplans aufgehoben. Der Kläger führt im Rahmen seiner Ermächtigung Insolvenzanfechtungsprozesse gegen das beklagte Land fort.
Er verlangt die Rückzahlung der vom Schuldner geleisteten Zahlungen für Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer und Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt 1.092.776,08 EUR. Das Landgericht wies die Klage ab; das Oberlandesgericht änderte das Urteil teilweise ab und verurteilte das Land zur Zahlung von 385.150,46 EUR nebst Zinsen. Die Revisionen sind beim Bundesgerichtshof zugelassen, wobei der Kläger sein Begehren weiterverfolgt und der Beklagte vollständige Abweisung begehrt.
Die beiderseitigen Revisionen waren zulässig. Die Revision des Klägers blieb ohne Erfolg, während die Revision des Beklagten nur insoweit Erfolg hatte, als er sich gegen seine Verurteilung zur Rückzahlung von 220.400 EUR Umsatzsteuer wandte. Das angefochtene Urteil wurde daher insoweit aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Die Revision des Klägers, mit der er die Rückzahlung von Lohn- und Annexsteuern für H. R., M. B. und G. R. erreichen wollte, war unbegründet. Das Bundesgericht entschied, dass diese Zahlungen keine unentgeltliche Leistung des Schuldners darstellten und daher nicht nach § 134 InsO anfechtbar sind. Zwar waren die Gehaltszahlungen überhöht und teilweise ohne arbeitsvertragliche Grundlage erfolgt, dennoch standen sie in einem Zusammenhang mit den bestehenden Arbeitsverhältnissen. Die Bezahlung von Lohn- und Annexsteuern erfolgte zur Erfüllung eigener, entgeltlich begründeter Verbindlichkeiten des Schuldners gegenüber dem Finanzamt. Die Entgeltlichkeit folgt aus der gesetzlichen Pflicht zur Steuerabführung, unabhängig davon, ob die Gehaltszahlungen materiell-rechtlich gerechtfertigt waren. Selbst bei Scheinarbeitsverhältnissen würde die Steuerzahlung nur dann unentgeltlich, wenn sie offenkundig und ohne ernsthafte Zweifel materiell-rechtlich nicht gerechtfertigt wäre.
Hinsichtlich der Revision des Beklagten entschied der BGH, dass die Rückzahlungsverpflichtung für 164.750,46 EUR (Lohn- und Annexsteuern für T. B., H. B., S. G. und M. R.) bestehen bleibt, da diese Zahlungen als unentgeltliche Leistungen des Schuldners nach § 134 InsO anfechtbar sind. Demgegenüber war die Verurteilung zur Rückzahlung von 220.400 EUR Umsatzsteuer im Zusammenhang mit der Rechnung der T. B. GmbH rechtsfehlerhaft. Das Berufungsgericht hatte diese Zahlung als unentgeltlich eingestuft, obwohl der Schuldner mit der Abführung der Umsatzsteuer eine eigene, aus der Steueranmeldung resultierende Verbindlichkeit erfüllte. Eine objektiv freigiebige Leistung lag hier nicht vor, da der Schuldner die Steueranmeldung nicht in offenkundigem Widerspruch zur materiellen Rechtslage vorgenommen hatte.
Grundsätzlich gilt die Erfüllung von Verbindlichkeiten aus Steuerbescheiden oder Steueranmeldungen demnach auch dann nicht als unentgeltliche Leistung des Schuldners, wenn die Steuer materiell-rechtlich nicht entstanden ist. Eine Anfechtung nach § 134 InsO kommt jedoch in Betracht, wenn der Schuldner durch eigenes Verhalten dazu beiträgt, dass ein Steuerbescheid offenkundig und ohne ernsthaften Zweifel von der materiellen Rechtslage abweicht oder er durch eigene Steueranmeldungen eine offenkundig unzutreffende Zahlungsverpflichtung begründet. Zudem wird die Abführung von Lohn- und Annexsteuern für Scheinarbeitsverhältnisse als unentgeltliche Leistung angesehen und ist daher nach § 134 InsO anfechtbar.
Harrsen weist darauf hin, dass die Entscheidung des BGH praktische Bedeutung habe, weil sie das Spannungsverhältnis zwischen der Bestandskraft von Steuerfestsetzungen und dem Interesse der Insolvenzgläubiger an der Erhaltung der Insolvenzmasse betreffe. Er führt aus, dass § 134 InsO dem Insolvenzverwalter aus Billigkeitsgründen ermögliche, unentgeltliche Leistungen zurückzufordern, da der Empfänger solcher Leistungen weniger schutzwürdig sei als jemand, der für seinen Erwerb eine Gegenleistung erbringen musste.
Gleichzeitig betont er, dass der Fiskus grundsätzlich darauf vertrauen dürfe, dass eine bestandskräftig festgesetzte Steuer auch bei materiell-rechtlicher Unrichtigkeit nicht einfach zurückgefordert werden könne.
Er merkt jedoch an, dass der Schutz der Bestandskraft nicht grenzenlos gelte: Überwiege das Interesse der Gläubiger an der Masse, könne eine Rückforderung gerechtfertigt sein, wenn die Steuerfestsetzung objektiv offenkundig und ohne ernsthafte Zweifel von der materiellen Rechtslage abweiche und der Schuldner selbst durch sein Verhalten dazu beigetragen habe. Harrsen unterstreicht zudem, dass der BGH diese Ausnahme restriktiv verstehen wolle und dass in der Praxis für Insolvenzverwalter lohnenswert sein könne, Steuerzahlungen der relevanten vier Jahre auf mögliche Anfechtungsgründe zu prüfen, insbesondere wenn die Unrichtigkeit auch auf das Verhalten des Schuldners zurückzuführen sei.