08.08.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
BAG
26.11.2024
1 ABR 37/20
ZIP 2025, 829
Das Verhandlungsverfahren über eine Beteiligung der Arbeitnehmer ist nicht nachzuholen, wenn es bei Gründung und vor Eintragung einer SE in das Register eines Mitgliedstaats der Europäischen Union unterblieben ist, weil deren Gründungsgesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigten.
Die Beteiligten streiten über die Einleitung eines Verfahrens zur Verhandlung über eine Arbeitnehmerbeteiligung in einer Europäischen Gesellschaft (SE) und damit im Zusammenhang stehende Informationsansprüche.
Antragsteller ist der bei der O. SE & Co. KG (O. KG) gebildete Konzernbetriebsrat. Beteiligter zu 2 ist der Vorstand der O. Holding SE (Holding SE) als deren Leitungsorgan. Die Holding SE wurde Anfang 2013 mit Sitz in England gegründet. Da die Gründergesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigten und auch nicht über Tochtergesellschaften verfügten, bei denen Arbeitnehmer beschäftigt waren, fanden vor der Eintragung der Holding SE keine Verhandlungen über die Beteiligung von Arbeitnehmern statt.
Ab März 2013 war die Holding SE alleinige Gesellschafterin der O. Holding GmbH (Holding GmbH) mit Sitz in Hamburg. Diese wurde im Juni 2013 im Wege eines Formwechsels in die O. KG umgewandelt, bei der ca. 800 Mitarbeiter und unter Einbeziehung der Tochtergesellschaften insgesamt ca. 2.200 Arbeitnehmer tätig sind. Im Oktober 2017 verlegte die Holding SE ihren Sitz nach Hamburg. Der Konzernbetriebsrat der O. KG vertritt die Auffassung, dass der Vorstand der Holding SE nachträglich ein besonderes Verhandlungsgremium bilden müsse, da sie über die Tochtergesellschaften verfüge, die Arbeitnehmer in mehreren Mitgliedstaaten der EU beschäftigten. Sowohl ArbG als auch LAG lehnten den Antrag des Konzernbetriebsrats ab.
Das BAG hat die Rechtsbeschwerde des Konzernbetriebsrats als unbegründet abgewiesen. Nach Ansicht des Senats ergibt sich eine Pflicht zur Nachholung eines Verhandlungsverfahrens über eine Arbeitnehmerbeteiligung weder aus § 4 noch aus § 18 SE-Beteiligungsgesetz (SEBG). Eine unmittelbare Anwendung des § 4 SEBG scheidet schon deshalb aus, weil es im Ausgangsfall nicht um die geplante Gründung einer SE i.S.v. Art. 2 SE-VO geht, sondern vielmehr um die Nachholung eines Verhandlungsverfahrens in einer bereits gegründeten SE. Dieser Fall ist aber nicht in § 4 SEBG geregelt.
Auch § 18 SEBG greift hier nicht. Nach § 18 Abs. 1 und 2 SEBG können die Arbeitnehmer oder ihre Vertreter nach der Gründung einer SE unter bestimmten Voraussetzungen die erneute Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums und die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit der Leitung der SE beschließen. § 18 SEBG setzt also voraus, dass bereits bei Gründung der SE ein besonderes Verhandlungsgremium gebildet wurde, das nach § 16 Abs. 1 SEBG die Nichtaufnahme oder den Abbruch der Verhandlungen beschlossen hat. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. § 18 Abs. 3 SEBG findet ebenfalls keine Anwendung, da die Norm voraussetzt, dass bereits bei Gründung der SE Verhandlungen über eine Arbeitnehmerbeteiligung stattgefunden haben.
Auch eine analoge Anwendung der Vorschriften kommt nicht in Betracht. Erforderlich wäre eine planwidrige Regelungslücke des Gesetzes, deren Planwidrigkeit aufgrund konkreter Umstände positiv festgestellt werden kann. Die Lücke muss sich daraus ergeben, dass der Gesetzgeber unbeabsichtigt von seinem dem konkreten Gesetzgebungsverfahren zugrunde liegenden Regelungsplan abweicht. Es liegt schon keine planwidrige Regelungslücke für den Fall vor, dass die Bildung und Beteiligung eines besonderen Verhandlungsgremiums entgegen den Vorgaben von Art. 12 Abs. 2 SE-VO sowie den §§ 4 ff. SEBG bei Gründung und vor Eintragung einer SE nicht erfolgt ist, weil deren Gründungsgesellschaften keine Arbeitnehmer beschäftigen. Eine Nachholung des Beteiligungsverfahrens ist nach der Rechtsprechung des EuGH bei Gründung einer arbeitnehmerlosen SE unionsrechtlich nicht vorgesehen.
Ein Anspruch auf Nachholung von Verhandlungen ergibt sich auch nicht aus § 43 SEBG im Hinblick auf den Gesichtspunkt eines möglichen Rechtsmissbrauchs. Die Nachholung einer Arbeitnehmerbeteiligung als Rechtsfolge eines solchen Missbrauchs kommt im Rahmen des SEBG nicht in Betracht. § 43 S. 1 SEBG bestimmt zwar, dass eine SE nicht dazu missbraucht werden darf, Arbeitnehmern ihre Beteiligungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Die Vorschrift ordnet allerdings nicht an, dass ein Verfahren zur Arbeitnehmerbeteiligung im Fall eines Missbrauchs durchzuführen wäre. Eine dahingehende Auslegung des § 43 SEBG ist weder unionsrechtlich geboten noch entspricht sie dem Willen des nationalen Gesetzgebers. Hierfür spricht insbesondere der Vergleich mit § 36 des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei grenzüberschreitendem Formwechsel und grenzüberschreitender Spaltung (MgFSG). Die Norm enthält ebenfalls ein Missbrauchsverbot, nach welchem grenzüberschreitende Vorhaben nicht dazu missbraucht werden dürfen, Arbeitnehmern ihre Mitbestimmungsrechte zu entziehen oder vorzuenthalten. Der Gesetzgeber hat für den Fall eines Verstoßes die Pflicht zur Durchführung von Verhandlungen über die Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer angeordnet. Dies verdeutlicht, dass der Gesetzgeber in Ausübung seines ihm bekannten Gestaltungsspielraums im Rahmen des SEBG und des MgFSG ganz bewusst unterschiedliche Sanktionen gewählt hat.
Im Fokus der Entscheidung stand die Situation der SE & Co. KG, wobei in erster Linie streitig war, ob die „Einwechslung“ einer SE als Komplementärin in eine GmbH & Co. KG die Durchführung eines Mitarbeiterbeteiligungsverfahrens in der SE auslöst. Abstrakt gesehen käme eine Anwendung von § 43 SEBG in diesen Fällen in Betracht. Der EuGH hat allerdings ausdrücklich klargestellt, dass ein von der Vorschrift des § 43 SEBG vorausgesetzter Missbrauch von einem entsprechenden Gestaltungswillen getragen sein muss. Ein solcher liegt bei Gründung in der Regel nicht vor. Auf Ebene der KG fehlt es meist an einem entsprechenden Vorenthalten oder dem Entzug von Mitarbeiterbeteiligungsrechten. Diese können aber nur unter den Voraussetzungen von § 4 MitbestG bestehen, die regelmäßig nicht vorliegen (Anm. RA Paul Schreiner,
NZG 2025, 716 ff.).