Generalanwalt beim EuGH C-706/22
Keine nachträgliche Verhandlungspflicht bei Gründung einer SE ohne Arbeitnehmerbeteiligungsverfahren

05.08.2024

Notizen zur Rechtsprechung

Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:

Generalanwalt beim EuGH
07.12.2023
C-706/22
BeckRS 2023, 35321

Leitsatz | Generalanwalt beim EuGH C-706/22

Art. 12 Abs. 2 der EU-Verordnung Nr. 2157/2001 ist i.V.m. den Art. 3 bis 7 der EU-Richtlinie 2001/86 dahingehend auszulegen, dass die genannte Vorschrift nach der Eintragung einer Holding-SE, die von beteiligten arbeitnehmerlosen Gesellschaften gegründet wurde, ohne dass zuvor Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer geführt worden sind, die Aufnahme solcher Verhandlungen nicht deshalb vorschreibt, weil diese Holding-SE zu einem Unternehmen wird, das die Kontrolle über Tochtergesellschaften ausübt, die Arbeitnehmer in einem oder mehreren Mitgliedstaaten beschäftigen.

Sachverhalt | Generalanwalt beim EuGH C-706/22

Zwei arbeitnehmerlose Gesellschaften, welche auch über keine Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, gründeten die O-Holding-SE, deren Eintragung am 28.03.2013 in das Register für England und Wales erfolgte. Verhandlungen nach den Art. 3-7 RL 2001/86/EG über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der O-Holding-SE unterblieben. Am darauffolgenden Tag wurde die O-Holding-SE zur alleinigen Gesellschafterin einer GmbH mit Sitz in Hamburg. Ein Drittel des Aufsichtsrats der GmbH waren Arbeitnehmervertreter. Später beschloss die O-Holding-SE die Umwandlung der GmbH in die O-KG. Folglich entfiel ab dem Zeitpunkt der Registereintragung die Mitbestimmung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Die O-Holding-SE ist die Kommanditist der KG. Komplementärin ist die O-Management-SE, deren alleinige Anteilseignerin wiederum die O-Holding-SE ist. Weder die O-Holding-SE noch die O-Management-SE beschäftigten Arbeitnehmer, während die O-KG ca. 816 angestellte Arbeitnehmer hatte. Tochtergesellschaften beschäftigten zudem ca. 2.200 Arbeitnehmer in mehreren Mitgliedstaaten. Mit Wirkung zum 04.10.2017 verlegte die O-Holding-SE ihren Sitz nach Hamburg. Der antragsstellende Konzernbetriebsrat der O-KG vertrat die Ansicht, dass die Leitung der O-Holding-SE ein Verfahren zur Bildung eines besonderen Verhandlungsgremiums (im Folgenden BVG) nachträglich einleiten müsse. Die bei der Gründung der O-Holding-SE unterbliebenen Verhandlungen über die Arbeitnehmerbeteiligung seien nachzuholen, da die O-Holding-SE inzwischen Tochtergesellschaften unterhalte, welche Arbeitnehmer beschäftigen.

Sowohl das ArbG Hamburg als auch das LAG Hamburg wiesen den Antrag ab. Das BAG setzte das Verfahren aus und legte dem EuGH vier Fragen vor. Die erste Frage lautete:

„Ist Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 in Verbindung mit Art. 3 bis 7 der Richtlinie 2001/86/EG dahin auszulegen, dass bei der Gründung einer Holding-SE durch beteiligte Gesellschaften, die keine Arbeitnehmer beschäftigen und nicht über Arbeitnehmer beschäftigende Tochtergesellschaften verfügen, sowie ihrer Eintragung in das Register eines Mitgliedstaats (sog. „arbeitnehmerlose SE“) ohne vorherige Durchführung eines Verhandlungsverfahrens zur Beteiligung der Arbeitnehmer in der SE nach dieser Richtlinie dieses Verhandlungsverfahren nachzuholen ist, wenn die SE herrschendes Unternehmen von Arbeitnehmer beschäftigenden Tochtergesellschaften in mehreren Mitgliedstaaten der Europäischen Union wird?“

 

Entscheidung | Generalanwalt beim EuGH C-706/22

Generalanwalt Richard de la Tour empfiehlt dem EuGH in seinem Schlussantrag die o.g. erste Frage, ob es möglich ist, Verhandlungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer im Nachhinein zu eröffnen, wie folgt zu beantworten:

„Art. 12 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 2157/2001 ... ist in Verbindung mit den Art. 3 bis 7 der RL 2001/86 ... dahin auszulegen, dass die genannte Vorschrift nach der Eintragung einer Holding-SE, die von beteiligten arbeitnehmerlosen Gesellschaften gegründet wurde, ohne dass zuvor Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer geführt worden wären, die Aufnahme solcher Verhandlungen nicht allein deshalb vorschreibt, weil diese Holding-SE zu einem Unternehmen wird, das die Kontrolle über Tochtergesellschaften ausübt, die Arbeitnehmer in einem oder mehreren Mitgliedstaaten beschäftigen.“

Aus Art. 3 Abs. 6 Unterabs. 4 der RL 2001/86 werde deutlich, dass nachträgliche Verhandlungen nur dann stattfinden können, wenn schon zu Anfang ein BVG eingesetzt worden ist und es sich genau genommen um eine Neuaushandlung handelt. Erwägungsgrund 18 der RL 2001/86 sehe vor, dass die vor der Gründung der SE bestehenden Rechte der Arbeitnehmer Ausgangspunkt auch für die Gestaltung ihrer Beteiligungsrechte in der SE (Vorher-Nachher-Prinzip) sein sollten. Aus diesem Erwägungsgrund lasse sich daher auch kein Recht auf nachträgliche Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer herleiten, wenn ein BVG nicht schon zu Anfang eingesetzt worden ist.

Die Unmöglichkeit der nachträglichen Aufnahme von Verhandlungen sei eine echte und bewusste Entscheidung des Unionsgesetzgebers, die sich aus dem Kompromiss über das Vorher-Nachher-Prinzip ergibt. Dies zeige beispielsweise der Davignon-Bericht, der als Grundlage für die letzten Verhandlungen über die Verordnung Nr. 2157/2001 und die RL 2001/86 diene und sich eindeutig für Verhandlungen zur Beteiligung der Arbeitnehmer vor der Eintragung ausspreche, um Vorhersehbarkeit für Aktionäre und Arbeitnehmer sowie Stabilität des Geschäftsverlaufs der SE zu gewährleisten. Darüber hinaus hatte das Europäische Parlament einen Erwägungsgrund 7a vorgeschlagen, der ausdrücklich Verhandlungen im Nachhinein vorsah, der aber zugunsten des viel vageren Wortlauts des 18. Erwägungsgrunds der RL 2001/86 verworfen worden sei.

Diese Entscheidung des Unionsgesetzgebers zeige sich auch bei der Ausarbeitung des Statuts der Europäischen Genossenschaft und in der RL 2003/72/EG33 zur Beteiligung der Arbeitnehmer in einer solchen, da dort – im Gegensatz zu den für die SE geltenden Vorschriften – ausdrücklich nachträgliche Verhandlungen über die Beteiligung der Arbeitnehmer vorgesehen werden. Zudem habe die Kommission in Kenntnis der Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Gründung und dem Geschäftsverlauf einer SE, insbesondere bei ihrer Errichtung ohne Einsetzung eines BVG, nie Änderungen der Verordnung Nr. 2157/2001 oder der RL 2001/86 vorgeschlagen, um diesen Schwierigkeiten abzuhelfen.

Abschließend fasst der Generalanwalt zusammen, dass die Anwendung des auf den Zeitpunkt der Eintragung der SE abstellenden Vorher-Nachher-Prinzips von den Mitgliedstaaten tatsächlich gewollt gewesen sei. Demnach erscheine es nicht möglich, die Beteiligungsrechte der Arbeitnehmer im Wege der Rechtsprechung zu erweitern, da dies die durch diese Verhandlungen teuer erkaufte Gleichgewichtslage in Frage stellen würde. Eine Ausnahme bestehe lediglich in Missbrauchsfällen.

Praxishinweis | Generalanwalt beim EuGH C-706/22

Entfällt ein Beteiligungsverfahren der Arbeitnehmer bei der Gründung durch arbeitnehmerlose Gesellschaften, entsteht nach Auffassung des Generalanwalts keine Pflicht zur Nachholung eines solchen, wenn die Holding-SE zu einem Unternehmen wird, welches die Kontrolle über Tochtergesellschaften ausübt, die Arbeitnehmer in einem oder mehreren Mitgliedstaaten beschäftigen.

Abschließend entscheidet nun der EuGH über die Auslegung der genannten Vorschriften. Zwar ist der Gerichtshof nicht an die Schlussanträge gebunden, folgt ihnen aber regelmäßig. Folgt der EuGH dem Schlussantrag werden zukünftig möglich Missbrauchsfälle an Bedeutung gewinnen – etwa im Fall der Gründung einer SE vor Erreichen der Schwellenwerte, die die Anwendung der Mitbestimmungsregelung auslösen.

Folgt der EuGH dem Schlussantrag des Generalanwalts nicht, ist außerdem die Frage zu beantworten, ob die nachträgliche Durchführung des Verhandlungsverfahrens in einem solchen Fall ohne zeitliche Begrenzung möglich und geboten ist. Sollte der Gerichtshof diese Frage bejahen, ist zu erörtern, ob bei der Nachholung des Verfahrens Art. 6 RL 2001/86 der Anwendung des Rechts des Mitgliedstaats entgegensteht, in dem die SE nunmehr ihren Sitz hat, wenn die SE in einem anderen Mitgliedstaat eingetragen und herrschendes Unternehmen von Tochtergesellschaften mit Arbeitnehmern wurde. Bejaht der Gerichtshof auch diese Frage, ist weiter zu klären, ob dies auch gilt, wenn der Staat nach der Sitzverlegung der SE aus der Union austrat und kein nationales Recht zu Verhandlungsverfahren zur Beteiligung von Arbeitnehmern in der SE aufweist.