05.09.2025
Notizen zur Rechtsprechung
Gericht:
Datum:
Aktenzeichen:
Fundstelle:
OLG Hamm
26.02.2025
8 U 25/24
NZG 2025, 746
Satzungsermächtigung zur Teilnahme von Aufsichtsräten an virtueller Hauptversammlung [ PDF ]
Die Kläger wenden sich gegen eine in einer Hauptversammlung der Beklagten erfolgten Beschlussfassung über eine Satzungsänderung. Die Beklagte ist eine börsennotierte Europäische Aktiengesellschaft (SE) mit Sitz in Essen. Die Kläger sind Aktionäre der Beklagten. Im Jahr 2023 berief der Vorstand der Beklagten die ordentliche Hauptversammlung in virtueller Form für Mai 2023 ein.
Der Tagesordnungspunkt 9 sah folgende Neueinfügung in § 21a der Satzung vor:
„(1) Der Vorstand ist ermächtigt, vorzusehen, dass Hauptversammlungen, die bis zum 30.6.2025 stattfinden, ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten am Ort der Hauptversammlung abgehalten werden (virtuelle Hauptversammlung).
(2) Die Bestimmungen der Satzung finden auf die virtuelle Hauptversammlung Anwendung, soweit nicht das Gesetz oder die Satzung etwas anderes vorgeben.“.
Der Tagesordnungspunkt 10 sah folgende Neueinfügung, aufschiebend bedingt auf das Wirksamwerden der unter Tagesordnungspunkt 9 vorgeschlagenen Satzungsänderung, in § 21a der Satzung vor:
„(3) Den Mitgliedern des Aufsichtsrats ist eine Teilnahme an der virtuellen Hauptversammlung im Wege der Bild- und Tonübertragung gestattet.“
Die ordentliche Hauptversammlung der Beklagten fand im Mai 2023 als virtuelle Hauptversammlung statt. Die Tagesordnungspunkte 9 und 10 wurden infolge der Abstimmung angenommen. Die Kläger erhoben gegen die Beschlussfassungen der Satzungsänderungen Widerspruch zur Niederschrift des amtierenden Notars. Die Satzungsänderungen wurden am 05.06.2023 in das Handelsregister eingetragen.
Die Kläger wandten sich durch Anfechtungs- und Nichtigkeitsklage vor dem LG Dortmund gegen die Satzungsänderungen. Das LG Dortmund erklärte die Satzungsänderung durch Beschlussfassung über den Tagesordnungspunkt 10 für nichtig. Die Berufung der Beklagten richtet sich gegen die Nichtigerklärung der Satzungsänderung durch Beschlussfassung über den Tagesordnungspunkt 10.
Die zulässige Berufung ist begründet und hat somit Erfolg. Der angegriffene Hauptversammlungsbeschluss ist wirksam.
Die Anfechtbarkeit, sowie die Nichtigkeit von Beschlüssen der Beklagten richtet sich nach deutschem Recht. Nach Art. 9 Abs. 1 SE-VO unterliegt die Anfechtung nach Beschlüssen einer SE, aufgrund fehlender spezieller Regelungen in der SE-VO und dem deutschen SE-Ausführungsgesetz, den nationalen Rechtsvorschriften des Sitzstaats, die für eine dort gegründete Aktiengesellschaft anwendbar wären, mithin in Deutschland das Aktiengesetz.
Das OLG Hamm lehnte einen Verstoß gegen §§ 124 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1 AktG als Anfechtungsgrund nach § 243 Abs. 1 AktG ab. Der Tagesordnungspunkt 10 ist ordnungsgemäß bekanntgemacht worden.
Nach § 124 Abs. 2 Satz 3 AktG ist bei Beschlussfassung einer Hauptversammlung über eine Satzungsänderung deren Wortlaut bekannt zu machen. Damit soll dem Aktionär die Möglichkeit zur zeitnahen sachgemäßen Information gewährt werden. Der Beschlussvorschlag unterliegt der objektiven Auslegung nach Wortlaut, Sinn und Zweck, Historie und Systematik. Insofern ist § 133 BGB anzuwenden, wobei bei Erklärungen an die Allgemeinheit auf einen durchschnittlichen Aktionär abzustellen ist.
Nach objektiver Auslegung ist der Tagesordnungspunkt hinreichend bestimmt. Der Wortlaut kann unter Umständen darauf schließen lassen, dass eine Abstimmung über Tagesordnungspunkt 10 erst bei der kommenden Hauptversammlung erfolgen soll. Ein verständiger Aktionär sieht jedoch in dem aufschiebend bedingten Beschlussvorschlag keiner Verlagerung des Tagesordnungspunkt 10 auf die nächste, noch unbestimmte, Hauptversammlung. Diese Verfahrensweise wäre umständlich und sinnlos. Nach dem Sinn und Zweck der Staffelung soll eine Abstimmung über Tagesordnungspunkt 10 unmittelbar nach dem Beschluss zu Tagesordnungspunkt 9 erfolgen. Zwischen Tagesordnungspunkt 9 und 10 besteht ein enger innerer Zusammenhang, der nicht künstlich aufzutrennen ist. Der Senat sieht in der Staffelung der Beschlussvorschläge keine Beeinträchtigung der Rechte der Aktionäre. Diese können sich unproblematisch zur Teilnahme an der Hauptversammlung entscheiden, sich darauf vorbereiten und ihre Stimmen abgeben. Aufgrund des notariellen Hauptversammlungsprotokolls ist auch dokumentiert, dass die Abstimmung über die beiden Tagesordnungspunkte in einem einheitlichen Zeitkorridor stattfand; die Aktionäre mithin Kenntnis über den vorherigen Beschluss von Tagesordnungspunkt 9 hatten.
Die Satzungsänderung ist eine nach § 23 Abs. 5 Satz 1 zulässige Abweichung. Die Ermächtigungsgrundlage ergibt sich aus §§ 118 Abs. 3 Satz 2, 118a Abs. 2 Satz 2 AktG. § 118 Abs. 3 Satz 1 AktG begründet eine Teilnahmepflicht für Mitglieder des Aufsichtsrats. Die Bedeutung dieser Teilnahmepflicht befindet sich im Wandel. Seit 1966 besteht eine grundsätzliche Anwesenheitspflicht der Mitglieder des Aufsichtsrats.
Diese wurde 2002 gelockert, indem für bestimmte, nicht abschließend geregelte Fälle den Mitgliedern des Aufsichtsrats die Teilnahme an der Hauptversammlung durch Bild- und Tonübertragung gestattet wird. Die physische Anwesenheit der Mitglieder des Aufsichtsrats sei nicht zwingend erforderlich. Eine generelle Freistellung von der Teilnahmepflicht darf die Satzung nicht vorsehen.
Seit 27.07.2022 wird in § 118a AktG die virtuelle Hauptversammlung als gleichwertig zur präsenten Hauptversammlung betrachtet. Für virtuelle Hauptversammlungen findet sich in § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG ein Verweis zu § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG, der die Teilnahme der Aufsichtsratsmitglieder an der Hauptversammlung im Wege von Bild- und Tonübertragung in bestimmten Fällen vorsieht.
Eine Verletzung der Teilnahmepflicht führt nur zu beschlussrechtlichen Konsequenzen, wenn durch das Fernbleiben Aktionärsfragen nicht ordnungsgemäß beantwortet werden können.
Das OLG Hamm betrachtet die Durchführung der virtuellen Hauptversammlung als einen bestimmten Fall im Sinne von § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG. Die Satzungsbestimmung der Beklagten ist vom Wortlaut der Ermächtigungsgrundlage gedeckt. Bei der Durchführung der virtuellen Hauptversammlung handelt es sich um eine hinreichend abgrenzbare Fallgruppe. Der Wortlaut des § 118 Abs. 3 Satz 2 AktG bietet keine Stütze für eine einschränkende Lesart hinsichtlich der Auslegung des bestimmten Falls als Ausnahmefall. Aus systematischer Sicht ist auch eine weite Auslegung der Verweisungsnorm des § 118a Abs. 2 Satz 2 AktG möglich.
Maßgeblich für das OLG Hamm ist jedoch der Sinn und Zweck der Regelungen über die Teilnahme der Aufsichtsratsmitglieder an der Hauptversammlung.
Aufsichtsratsmitglieder werden nicht generell von ihrer Teilnahmepflicht an der Hauptversammlung befreit. Außerdem werden keine schutzwürdigen Interessen von Aktionären und anderen Organen der Gesellschaft bedroht. Der Aufsichtsrat kann seine Pflichten in der Hauptversammlung genauso gut virtuell erfüllen, wie wenn er präsent ist. Dabei ist insbesondere die passive Rolle des Aufsichtsrats in der Hauptversammlung zu berücksichtigen. Der Aufsichtsrat kann der Hauptversammlung folgen, seiner Kontrollpflicht nach § 111 Abs. 1 AktG nachkommen und gegebenenfalls eingreifen. Eine persönliche Interaktion der Aktionäre mit dem Aufsichtsrat ist von vornherein ausgeschlossen, weil die Aktionäre ohnehin nur virtuell teilnehmen. Die Möglichkeit des Aufsichtsrats sich während einer laufenden Hauptversammlung zu beraten besteht durch etwaige Systeme im Wege von Bild- und Tonübertragung. Das Ziel der visuellen Wahrnehmbarkeit der Aufsichtsratsmitglieder kann unter Umständen sogar besser in der virtuellen Form als in Präsenz erfüllt werden, indem die Mitglieder der Aufsichtsrats durch ihre Kameraeinstellung unmittelbar sichtbar sind. Das OLG Hamm legt der Auslegung zudem die Erwartung eines gewissenhaften Aufsichtsratsmitglieds zugrunde. Die Regelungen zur Durchführung von virtuellen Hauptversammlungen sind für zusätzlichen Schutz nach § 118a Abs. 3 Satz 1 AktG zu befristen.
Technische Störungen sind nicht auszuschließen, jedoch vom Gesetzgeber mit der Änderungen des § 110 Abs. 3 Satz 1AktG bewusst in Kauf genommen worden. Das OLG Hamm überlässt dem Satzungsgeber aufgrund fehlender stichhaltiger Nachteile der virtuellen Hauptversammlung den Gestaltungsspielraum selbst über die Teilnahmeform des Aufsichtsrats zu entscheiden.
Die historische Auslegung der Normen steht dem bisherigen Auslegungsergebnis des OLG Hamm nicht entgegen.